
Am Ende des Singverbots
Während der Corona Pandemie geschah Historisches: Die globale Gesellschaft ist unter dem Druck der Pandemie in seltener Einmütigkeit zu gemeinsamen Einsichten gekommen. Es galt und gilt nach wie vor, mit der Unterbrechung der Ansteckungsketten die Gesundheitssysteme vor dem Kollaps zu schützen. Alle sind gefordert, solidarisch ihren Beitrag zu leisten.
Vreni Winzeler — Doch die Sache entwickelte eine Eigendynamik jenseits der Fakten: Krank zu werden, bzw. jemanden mit einer Krankheit anzustecken, ist - weil bei richtigem Verhalten vermeidbar - gleichsam zu einem kriminellen Akt geworden. Die fraktionierte Gesellschaft hat sich als arterhaltende Gesellschaftsform nicht nur in Pandemiezeiten etabliert.
Speziell das gemeinsame Singen geriet während der 2. Welle unter medizinischen Generalverdacht und wurde im Oktober 2020 verboten. Die aus der Perspektive der westlichen Leistungsgesellschaft bereits vor Corona in den Hobbybereich abqualifizierte Tätigkeit des gemeinsamen Singens erlitt unter Corona zusätzlich einen nur schwer wieder gut zu machenden Imageschaden. Fact ist, Aerosole werden in Chorproben ausgetauscht; das leugnet kein Sänger und keine Sängerin. Manch eine(r) holt sich regelmässig eine Infektion in der Chorprobe und forderte damit sein Immunsystem heraus.
Sängerinnen und Sänger wissen aber auch, dass die Impacts des gemeinsamen Singens auf das Nerven- und Immunsystem, auf die (lebenslange) Entwicklung des Gehirns und auf das körperliche und seelische Wohlbefinden gewaltig und von unschätzbarem Mehrwert sind. Dass beim Singen im Chor soziale Kontakte gefunden und gepflegt werden können und ausserdem Gelegenheit zu sinnvollen Lernprozessen bezüglich Resilienz, Toleranz und Selbstkontrolle besteht, müsste eigentlich ausreichen, um sich auch politisch zu überlegen, ob ein generelles Singverbot in Pandemiezeiten überhaupt einen Sinn macht.
Der Bundesrat hat - für die ganze Szene etwas unerwartet – Ende April die Massnahmen gelockert. Diese Lockerung ist zweifellos den Verbänden zu verdanken, welche seit Beginn der Pandemie mit Ausdauer und Hartnäckigkeit auf die bestehenden und wirksamen Schutzkonzepte der IG CHorama für Chorproben hingewiesen haben. Das gemeinsame Singen ist mit eigenverantwortlichem Verhalten auch zu Pandemiezeiten sicher und – s. oben – gesellschaftlich systemrelevant.
Die Öffnung war nicht für alle Chöre eine Erlösung. Die Angst vor der Lebensgefahr, die von der singenden Gruppe ausgeht, sitzt tief. Den Chören muss jetzt vor allem vermittelt werden, dass sie bei verantwortungsbewusstem Verhalten zu matchentscheidenden Hoffnungsträgern auf dem Weg zurück in die Normalität werden können. Dazu braucht es Mut. Und die Demut, nicht über die Situation zu jammern, sondern das Optimum aus der Situation herauszuholen. Nichts tun, ist keine Option. Denn so schlimm das Singverbot für die Szene auch war, so verbindend war es auch. Die Solidarität und Kraft, welche die Chorszene in der Pandemie entwickelt hat, wird die Chöre aus der Krise hinaus begleiten und stärken.