
Das gefährlichste Hobby der Welt
Man ist sich nicht einig. Erst noch manifestierten sich (von amerikanischen Wissenschaftlern erforscht und erwiesen) die überaus positiven Auswirkungen des gemeinsamen Singens auf das Immunsystem und nun wird von denselben Forschern das erhöhte Risiko der Ansteckung mit Corona bei Chorproben heraufbeschworen.
SKJF — Dieses erhöhte Ansteckungsrisiko in der singenden Gruppe (in jeder Gruppe) kann nota bene nicht in Abrede gestellt werden. Zwar ist die Geschichte mit den Aerosolen nicht abschliessend geklärt; es könnte durchaus sein, dass nicht das gemeinsame Singen per se die Gefahr der Chorprobe ausmacht. Weitaus erschreckender ist die Idee, dass die soziale Nähe und das Miteinander und Füreinander, welche in einem Chor besonders gross geschrieben werden, die Gesundheit bedrohen könnten.
Sollten die Fraktionierung der Gesellschaft als Modell einerseits und der Lockdown als politische Reaktion auf reale oder vermutete Gefahr andrerseits eine breite Akzeptanz finden, sind Kultur und kulturelle Teilhabe gefährdet. Der Primat des Generalverdachts. Eine generelle Bankrotterklärung an die Gemeinschaft. Der Sieg der Erhaltung des Lebens über das Leben selbst. Der Frust über die unübersichtliche Situation und über die mehr als unklare Zukunft hat in der Musikszene aber auch einen Kreativitätsschub ausgelöst. Die in den letzten Monaten entstandenen musikalischen Beiträge skalieren zwischen ernsthaft und lustig und zwischen Adaption und Neukomposition.
Eine gute Woche nach der Verordnung des Lockdowns und zu Beginn einer Konzertabsagewelle historischen Ausmasses, ging Catherine Fenders Canon anti Corona auf youtube viral: «Reste chez toi, n’oublie pas les gestes barrière» wurde da in zwar düsterem Moll aber durchaus lüpfig geschmettert, um später mit der Empfehlung «Prends des nouvelles de tes copains, de mamie, de papi, du chien mais…» in die Wiederholung zu schlittern. Und wie ein Mantra kreisten die mit Mme. Fenders Text identischen Empfehlungen des BAG bis Anfang Juni. Ebenfalls zu Beginn des Lockdowns luden die Berliner Happy Disharmonists Carsten Gerlitz‘ Verschnitt von My Sharona hoch - der lautmalerisch leicht angepasste Text (Scheiss Corona) war Ausdruck eines globalen Unmuts über die Situation. Der Song von The Knack erfuhr diverse Coverversionen, darunter auch eine umwerfende, mit einem Hustkonzert eingeleitete Version einer italienischen Band. Es folgten gepflegte Umdichtungen der Bohemian Rhapsody (No escape from reality – don’t touch your eyes!), von Lady Madonna (Lady Corona) und natürlich von Leonard Cohens Hallelujah. Manche Titel boten sich gewissermassen geradezu an, wie zum Beispiel Helene Fischers Atemlos durch die Nacht, Simon & Garfunkels Sound of Silence (Fight the Virus), Let it go aus dem Disney-Movie Frozen (Don’t let them in, don’t let them see…) oder der selbstredende Song Küssen verboten von den Prinzen. Auch Mani Matters Katastrophenepos vom Zundhölzli musste dran glauben, und Bliss beteiligten sich ganz offiziell via nationales Fernsehen mit einem Corona-Medley an der musikalischen Verarbeitung der Krise.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen all die ungemein wertvollen und Team erhaltenden Aktionen von tausenden von Chören weltweit, welche mit der aufwendigen Montage von Aufnahmen einzelner Stimmen virtuelle Chöre im Netz bildeten. Von Beethovens Neunter über David Bowies Heroes und Michael Jacksons We are te world bis zu You’ll never walk alone aus dem Musical Carousel gelangen berührende Bekenntnisse zum musikalischen Miteinander, zum Willen, der Situation konstruktiv die Stirn zu bieten und zum Glauben an eine gemeinsame Zukunft.
Angesichts der zum Teil deftigen Textadaptionen kann man sich nach der adäquaten Form fragen: Handelt es sich um fehlende Ernsthaftigkeit? Um fatale Fehleinschätzungen? Um Flucht nach vorn? Um Respektlosigkeit? Oder einfach nur um Fatalismus? Mitnichten. Der kreative und humorvolle Umgang mit der Situation rettet über Depression und Mutlosigkeit hinweg, eröffnet neue Möglichkeiten und hilft mit, die Situation optimistisch zu beurteilen. Möge die Überzeugung wachsen, dass es für jedes Problem mindestens drei Lösungen gibt und jede noch so missliche Lage wenn nicht ein Ende, so doch eine Veränderung findet. In diesem Zusammenhang seien noch einmal die Berliner Happy Disharmonists zitiert. Der Chor schafft es mit seinem brandneuen Video Das gefährlichste Hobby der Welt, die Angst in Stolz zu verkehren. Auf die Idee muss man erst einmal kommen!