Ebb’ und Flut 
Reihe 9 # 69

Reihe 9 # 69

mku, 09.09.2022

Geheimnisvoll erscheint so mancher Landratte das stete Auf und Ab der Nordsee: ein faszinierendes Naturschauspiel, wenn sich Wellen und Wogen für ein paar Stunden zurückziehen und die eigenartige Welt des Watts, der Salzwiesen und der Priele freigeben. Kaum zu glauben, dass der weit entfernte und doch so vertraute Mond seine Anziehungskraft dabei im Spiel hat. Denn selbst wenn er sich hinter dichten Wolken verbirgt, bestimmt er in ewig währender Regelmässigkeit die Gezeiten, die nicht nur die Natur, sondern vielfach auch das Leben der Menschen an der Küste bestimmen.

Kein Wunder also, wenn die «Ostfriesische Landschaft» (ein «höherer Kommunalverband», wie es im korrekten Amtsdeutsch heisst) ihr musikalisches Sommerfestival «Gezeitenkonzerte» getauft hat – und ein wenig selbstironisch (auf jeden Fall aber wiedererkennbar!) auf den Plakaten und Drucksachen mit Watt, Wind und Wetter spielt (siehe unten). Tatsächlich muss ganz Ostfriesland ohne einen einzigen repräsentativen Konzertsaal auskommen. Dafür aber wird die gesamte Region für einige Wochen selbst zum Klingen gebracht: nicht nur in Aurich, Leer und Emden, sondern auch in Gristede, Völlen, Greetsiel oder Bunderhee. Das dahinterstehende, nicht nur touristisch gedachte Konzept findet sich heute in vielen (abgelegenen) Landstrichen, die so auch mit ihren eigenen kulturellen Schätzen im wahrsten Sinne des Wortes «erfahrbar» werden. Vor allem geht es unkompliziert zu. Das zieht dann auch viele neue Hörer an. Wie herrlich entkrampfte sich etwa die Atmosphäre im Fährhaus am Borkumterminal bei der konzertanten Lesung der Kreutzersonate (Beethoven / Tolstoi), als zu den Worten «der Gatte muss seiner Frau erst den Geschmack an diesem Laster beibringen» keine Zigarrenkiste, sondern ein wirklicher «Laster» lautstark von der Fähre rumpelte – und der Schauspieler Dominique Horwitz allein durch seinen Tonfall der Aufschrift «Borkum Beton» tiefsinnigen Gehalt verlieh …

Höhepunkt war indes ein Abend in der Johannes-a-Lasco-Bibliothek in Emden, nicht nur wegen der einzigartigen Architektur und Raumnutzung (Bibliothek und Konzertbestuhlung in der Kriegsruine der Grossen Kirche), sondern auch wegen des sehr lange nachklingenden Programms mit Christian Tetzlaff: Werke für Violine solo und die bachsche Ciaccona, bei der man bei geschlossenen Augen wenigstens gedanklich vom Alltag in unendliche Weiten fliehen konnte. Mir fällt es dann immer schwer, in der profanen Pause ein erstes Wort zu finden.

Ihr
Michael Kube

 

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Watt, Wind und Wetter: Gezeitenkonzerte in Ostfriesland

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Inhalt «Reihe 9»

Wer sitzt in Reihe 9?

Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

PD Dr. Michael Kube ist Mitglied der Editionsleitung der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen) und berät des Berliner Klassik-Portal «www.idagio.com». Darüber hinaus ist er Juror für den «Preis der deutschen Schallplattenkritik». Seit der Saison 2015/16 konzipiert er die Familienkonzerte «phil. zu entdecken» der Dresdner Philharmoniker. Zudem unterrichtet Michael Kube Musikwissenschaft an der Musikhochschule Stuttgart sowie an der Universität Würzburg. - Für die Schweizer Musikzeitung schreibt er seit 2009.