Reihe 9 # 45
Noch nie waren Repertoirekenntnisse und Ideen für die Konzertdramaturgie gefragter als in diesen Wochen. Kaum stand im Spätwinter die kommende Saison, konnte man sie auch schon wieder vergessen. Man hört hinter vorgehaltener Hand – pardon: hinter dem MNS (Mund-Nasen-Schutz) – von bisweilen vier oder mehr inzwischen durchgearbeiteten Programmen pro Konzertabend, die in der Schublade parat liegen, um gegebenenfalls mit rascher Reaktion nicht mehr ganz absagen zu müssen. Dieses ausgesponnene Sicherheitsnetz ist aber nicht nur eine Belastung für die künstlerische Planung, die Musiker und natürlich die Mitarbeiter der Orchesterbibliothek, die jede Note besorgen und vorbereiten müssen, sondern auch für das Abo-Auditorium, das schon im Alltag mit Verunsicherungen zu kämpfen hat. Wer sind die Glücklicheren? Jene Institutionen, die bereits vor dem Lockdown die fertige Saison bunt gedruckt präsentierten (und nun als Makulatur kassieren müssen), oder diejenigen, die später dran waren, sich die Druckkosten sparten und die Vorbereitungen im Stillen der Rundablage zuführten? In beiden Fällen werden die aktuellen Angebote derzeit lediglich monatsweise vor allem über die digitalen Medien kommuniziert. Oder grammatikalisch ausgedrückt: der irreale Konjunktiv II (hätte, hätte…) trifft auf das Präsens der machbaren Gegenwart.
Wie nun mit dieser «neuen Normalität» (was für ein Euphemismus!) umgehen? Ein wenig Glück hatte dieser Tage die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, die schon seit Längerem ihre Saison mit einem mehrteiligen, immer auch mit (Wieder-)Entdeckungen gespickten Schwerpunkt «Modern Times» startet. Diesmal machte Charlie Chaplins Stummfilm Gold Rush (1925) mit live gespielter Originalmusik den Anfang. Natürlich nicht in opulenter Vollbesetzung, sondern verkleinert auf ein 13 Musiker umfassendes Ensemble. Was aber im ersten Moment wie eine durch die Umstände erzwungene Reduktion erschien, entfaltete unter der Leitung von Adrian Prabava schon nach wenigen Takten berückende Wirkung durch einen wundervoll ausgespielten, mitunter ironische Distanz haltenden nostalgischen Sound wie auch hervorragende Synchronisation zum bewegten Bild. Und wenn der Tramp am Ende als Millionär den Weg in die Alte Welt antritt, schliesslich dabei noch sein Liebesglück (wieder-)findet, wirkt dies im seltsam grosszügig-nüchternen Ludwigshafener Pfalzbau doppelt schön.
«Modern Times» schliesst in diesem Jahr übrigens mit einem Abend unter dem Motto «Trick 17». Denn wie gelingt es, in coronalen Zeiten alle Musiker eines grossen Sinfonieorchesters aufs Podium zu bringen? Sicherlich nicht mit einer spätromantischen Tondichtung, sondern sukzessiv mit Strawinskys kantigem Klavierkonzert (begleitet nur von Bläsern) und Bartóks fulminanter Musik für Saiteninstrumente. Beides Raritäten im Normalbetrieb.
Ihr
Michael Kube
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- Fotos: mku
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