Ausgebremst 
Reihe 9 # 57

Reihe 9 # 57

mku, 09.09.2021

Das letzte Abenteuer der Zivilisation. So jedenfalls bezeichne ich gerne einmal das Reisen mit der Deutschen Bahn. Denn wegen der verlässlich regelmässigen Verspätungen halte ich die ausgehängten Fahrpläne für ein oft genug uneingelöstes Versprechen (die Schweizer Leserschaft wird jetzt sicherlich mitleidig lächeln). Beim Zugrestaurant freue ich mich immer über eine tschechische Wagengarnitur. Denn dort gibt es noch richtige Speisen, morgens gar ein frisch zubereitetes Spiegelei. – Der Volksmund sagt bekanntlich: Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen. Was aber erzählen, wenn man, wie am vergangenen Wochenende, radikal am Reisen gehindert wird? Vorgesehen war für diese Ausgabe der Reihe 9 ein Besuch des Festivals Köthener Herbst mit einem wundervoll stimmigen Bach-Programm, geblieben ist angesichts der jüngsten Bahnstreikwelle Katerstimmung. Denn wenn für die zeitige Hinfahrt nur eine einzige Verbindung vorgeschlagen wird und für den abendlichen Rückweg kurzfristig gar nichts, bleibt man wohl besser daheim. Und überhaupt: Wer will bei einem so ausgedünnten Fahrplan schon eine Reise «in vollen Zügen geniessen»? Ohne Abstand kaum erstrebenswert!

Mit welchen Herausforderungen haben unter solchen Umständen erst all die Veranstalter zu kämpfen. Im Opern- und Konzertbetrieb wird bei kurzfristigen Indispositionen schon mal eine Aushilfe eingeflogen oder durch den Fahrdienst abgeholt – dann gehts mit kurzen Einweisungen und Absprachen eilends auf die Bühne oder das Podium. Das Publikum bekommt von den im Hintergrund heissgeglühten Telefondrähten in der Regel kaum etwas mit – the show must go on. Doch wie viele freie Musikerinnen, Musiker und Ensembles haben sich in den vergangenen Tagen mühsam selbst organisieren müssen, um rechtzeitig anzukommen? Absagen geht nicht, zumal im hiesigen «Neustart Kultur» schlichtweg jede Mugge zählt (das musikalische Gelegenheitsgeschäft, kurz auch «Mucke»). – Systemrelevante Infrastruktur sollte abgesichert sein. Nun rächst sich die 1994 vollzogene Privatisierung der Bundesbahn. Auch daran muss man all jene erinnern, die dieser Tage lautstark eine Verbeamtung der Lokführer fordern. Auf einen verlässlichen Fahrplan angewiesene Menschen bleiben bis dahin auf der Stecke – oder stimmen in einen alten Schlager von Christian Anders ein: «Es fährt ein Zug nach Nirgendwo / den es noch gestern gar nicht gab …»

Ihr
Michael Kube

 


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Inhalt «Reihe 9»

Wer sitzt in Reihe 9?

Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

PD Dr. Michael Kube ist Mitglied der Editionsleitung der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen) und berät des Berliner Klassik-Portal «www.idagio.com». Darüber hinaus ist er Juror für den «Preis der deutschen Schallplattenkritik». Seit der Saison 2015/16 konzipiert er die Familienkonzerte «phil. zu entdecken» der Dresdner Philharmoniker. Zudem unterrichtet Michael Kube Musikwissenschaft an der Musikhochschule Stuttgart sowie an der Universität Würzburg. - Für die Schweizer Musikzeitung schreibt er seit 2009.