
Reihe 9 # 41
Seit ein paar Wochen schon stecken nicht nur Wirtschaft und Fussball in der Krise. Mehr noch sind es alle Kulturaktiven – gleich ob die Kleinen bei der Musikalischen Früherziehung, die Älteren im Kirchenchor oder die Profis im gross besetzten Orchester. Zu Recht wird politisch wie virologisch an die Verantwortung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt appelliert, wenn es um die Abwehr unbekannter und unsichtbarer Gefahren geht. Was allerdings viele ausserhalb der musikliebenden Kreise nicht sehen: Gerade jetzt ist der Zusammenhalt in kleinen wie grossen Ensembles mehr denn je auf die Probe gestellt, und es ist eine ganz andere Form der «Probe», als man sie bisher gewohnt war. Denn wie gemeinsam musizieren oder singen, wenn das Ensemble nicht gleich eine Wohngemeinschaft bildet? Reicht der Balkon als Bühnenersatz, um einsam-gemeinsam Beethovens Ode to Joy zu spielen? Oder dann doch lieber vor der Kamera am Laptop? Wie kreativ sind die Aktionen im Netz wirklich? Und wie viele Menschen können damit real erreicht werden?
All diese Fragen tauchten schon am 10. März auf, als das Gürzenich-Orchester in der Kölner Philharmonie plötzlich auf sein angestammtes Publikum verzichten musste. Gespielt wurde dann im Live-Stream ein Geisterkonzert – ohne Hüsteln, aber auch ohne Applaus und das Kribbeln in den Ohren. Damals durften die Töne noch aus dem sprichwörtlichen Klangkörper kommen. Inzwischen werden aber auch diese seziert. So beim traditionellen Europakonzert der Berliner Philharmoniker. Eigentlich als Gastspiel in Tel Aviv geplant, konnte es wenigstens unter strengen Auflagen in das angestammte «Wohnzimmer» des Orchesters, den Grossen Saal des Berliner Scharoun-Baus, verlegt werden. Doch was war das für ein Konzert, das am 1. Mai live von der ARD übertragen wurde?! In weit auseinandergezogener Kammerbesetzung (Abstandsregeln!) erklang zunächst programmatisch Fratres von Arvo Pärt, dann Samuel Barbers Adagio, schliesslich Gustav Mahlers 4. Sinfonie in der Fassung von Erwin Stein; dass diese einst für Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen entstand, blieb übrigens in der ohnehin unsicheren Moderation unerwähnt (vermutlich aus Furcht, allein der Name «Schönberg» sorge vor dem Bildschirm für ein freiwilliges musikalisches distancing).
Am Ende dann ein stiller Dank des Dirigenten an die Solistin und die Musiker. Mir selbst war an diesem Tag jedenfalls die Welt ein wenig abhandengekommen. Ein wahrlich geisterhaftes Konzert – wie kurz vor dem Untergang der Welt.
Ihr
Michael Kube
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- Foto: Monika Rittershaus
- Einsame Klänge beim Europakonzert der Berliner Philharmoniker.