Reihe 9 # 12
Wenn es um Musik und ihre Institutionen, um Dirigenten und den musizierenden Nachwuchs geht, dann wird der Blick gerne mit etwas Neid gen Norden gerichtet. Der Norden, das ist in diesem Fall das ferne und doch so nahe Finnland, jenseits der einst über den Handel verbindenden Ostsee. Kein anderer europäischer Staat hat in den vergangenen Jahrzehnten so systematisch auch in die musikalische Bildung und Förderung der immer wieder nachwachsenden jungen Generation investiert – nicht nur in den Zentren, sondern auch in den ländlichen Regionen, in denen mit zunehmender Nähe zum Polarkreis die Bevölkerungsdichte rapide abnimmt. Und was sich die fünf Millionen Finnen leisten, ist beeindruckend: Erst 2011 eröffnete in Helsinki das Musiikkitalo (das «Haus der Musik») – ein Gebäude, das hinter seiner äusserlichen Bescheidenheit aus Glas und grünem Kupfer gleich zwei Orchester (nämlich das Städtische und das des Radios) sowie die Sibelius-Akademie als einzige Musikhochschule des Landes beherbergt. Die Wege sind dabei im doppelten Sinn des Wortes kurz: Auch hinter der Bühne lässt eine Logistik erstaunen, die (so hiess es bei der Führung durch die hellen Katakomben) sowohl den «Zirkuspferden» wie auch den «Arbeitspferden» dient. Wer andere, alte wie neue Konzerthäuser kennt, ist von so viel durchdachter Funktionalität verblüfft.
Rasch gerieten jedoch solche Beobachtungen angesichts eines fulminanten Festkonzerts in den Hintergrund – ein Konzert, mit dem am 6. Dezember 2017 nicht nur der 100. Jahrestag der staatlichen Unabhängigkeit gefeiert wurde, sondern auch der 90. Geburtstag des Finnischen Radio-Sinfonieorchesters unter seinem Chefdirigenten Hannu Lintu. Reden oder ein gängiges Repertoire standen nicht auf dem Programm, das auch landesweit zu empfangen war. Vor der Pause erklangen vielmehr in Uraufführungen zwei Werke von Lotta Wennäkoski (Until the Dreams) und Magnus Lindberg (Tempus fugit), denen allerdings der lange Schatten der Offiziosität des Tages anzumerken war. Ob sie den Weg nehmen müssen, den in der Musikgeschichte nahezu alle derartigen «Festtagsmusiken» gingen, sei dahingestellt. Und so begann die erhabene Feierstunde gefühlt erst mit Sibelius’ grossformatiger Sinfonie-Kantate Kullervo op. 7 (1892) – einst als «Geburtsstunde der finnischen Musik» apostrophiert und gerade heute mit ihren Ecken und Kanten noch immer ein überzeugender Wurf des damals noch unbekannten Komponisten.
Doch nicht allein das Werk beeindruckte. Vielmehr war es der nachbarschaftlich durch den Estonian National Male Choir verstärkte Polytechnische Chor. Hier ist nach 117 Jahren stimmlich wie kameradschaftlich noch immer eine Tradition lebendig vorhandenen, die an vielen anderen Orten das an Umbrüchen so reiche 20. Jahrhundert nicht überdauert hat. Mit glühendem Feuer, stimmlicher Kraft und sängerischem Stolz waren die Studenten und Techniker für mich die eigentlichen Stars des Abends beim glücklichen Verbinden grosser Traditionen und moderner Welt – auch was das edle Feiern grosser Feste angeht. Bis hin zu einem letzten Absingen der Finlandia-Hymne im St. Urho.
Ihr
Michael Kube
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- Foto: jampe/wikimedia commons
- Musiikkitalo, Helsinki
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- Foto: mku
- Festkonzert vom 6. Dezember 2017