
Reihe 9 # 10
Eines ist sicher: Früher waren Konzertprogramme bunter. Damit sind nicht allein jene langen, keineswegs aber langweiligen historischen Abende gemeint, bei denen wie aus einer Wundertüte ganze Werke und einzelne Sätze der Bereiche Sinfonie und Konzert mit Liedern, Gesängen und Improvisation bunt gemischt wurden. Auch ein Blick in die 1990er-Jahre (und etwas darüber hinaus) lohnt, als – Land auf, Land ab – mit erstaunlichem Mut und anhaltender Freude viel Neues und Altes auf den Notenpulten stand. Es wurden damals längst vergessene Ecken des Repertoires ausgeleuchtet und durchkämmt, das auch heute noch mehr zu bieten hat als die grossen etablierten Namen der Top Ten Composers oder der Hundred Greatest Works. Das erinnert ein wenig an die erfolgreiche kunstgeschichtliche Serie der 100 Meisterwerke – eine vom deutschen Bildungsfernsehen veranstaltete «Schule des Sehens», aus der mit Blick nach links und rechts bald 1000 Meisterwerke erwuchsen.
Dann kam der radikale Umschwung. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass bald nach der Jahrtausendwende der damals frisch bestellte Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, Christian Thielemann, dem Publikum ganz bewusst wieder Beethoven und Brahms verordnete – und daneben nur selten auf die Pirsch durch das Dickicht der Musikgeschichte ging und bis heute geht. Aus vielerlei Gründen fanden sich für diese Einstellung in den Intendanzen wie auch unter den Kollegen zahlreiche Follower (um einen modernen Sprachgebrauch zu bemühen). Das Ergebnis dieser konzeptionellen Reaktion lässt sich denn auch in den allermeisten Vorschauen auf die jüngste Opern- und Konzert-Saison finden: eine seltsam einträchtige und sich dazu viel zu schnell perpetuierende Abfolge des Immergleichen (vielfach sogar mit zyklischen Aufführungen), bestenfalls garniert mit einem Composer in Residence. Hauptsache die Besetzung passt und die ohnehin raren Abonnenten werden nicht unnötig verschreckt.
Dass es an einzelnen Abenden auch anders geht, zeigte das erste der vielfach konventionellen Akademie-Konzerte des Mannheimer Nationaltheater-Orchesters, bei dem im akustisch problematischen Rosengarten musikalisch erstaunlich viel zueinander passte: Zur Eröffnung das Vorspiel von Wagners Meistersingern, in der zweiten Hälfte dann mit Schostakowitschs Leningrader Sinfonie ein Schwergewicht. Als konzertantes Gegenstück dazu erklang Hindemiths Kammermusik op. 36/2, die gerne auch als Cellokonzert bezeichnet wird. Meine Vorfreude auf gerade dieses Stück war unendlich gross, denn solche, alle Gattungsgrenzen aufhebenden «Kammermusiken» aus den experimentierfreudigen 1920er-Jahren werden kaum oder gar nicht aufgeführt, fordern sie doch in verblüffenden Besetzungen das Talent des Orchesterdirektors und von jedem Musiker ein kammermusikalisches bis solistisches Spiel. Gewagt wurde diese Rarität von Benedict Kloeckner, der als grosse Nachwuchshoffnung auf dem Violoncello mit Schumann oder Dvořák das Publikum sicherlich bequemer für sich hätte begeistern können. Hut ab vor diesem Engagement. Dass er aber gerade am «Tag der deutschen Einheit» als zweite Zugabe ein von Pablo Casals vielfach gespieltes katalonisches Volkslied reaktivierte, wirkte angesichts der aktuellen Entwicklungen in Barcelona wenigstens unbedacht. Honi soit qui mal y pense.
Ihr
Michael Kube