
Cristina Urchueguía
Assistenzprofessorin für Musikwissenschaft an der Universität Bern, Zentralpräsidentin der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft
Werdegang: Studium der Musik in Spanien, der Musikwissenschaft in Deutschland und der Schweiz
Was würden Sie als Urknall in Ihrem Musikerleben bezeichnen?
An einen Urknall kann ich mich so nicht erinnern. Prägende Erlebnisse kamen auf leisen Sohlen, denn Musik war in meinem Leben immer präsent. Doch eine Erfahrung hat tatsächlich eine initiatorische Wirkung gehabt: Mit drei oder vier Jahren hörte ich Lee Marvin im Radio, er sang I was born under a wandring star, und das tat er in einer Weise, die mich faszinierte. Aber auch der Urknall dürfte eher eine klanglose Angelegenheit gewesen sein. Schallwellen brauchen nämlich Ohren, um gehört zu werden.
Wie hat sich dieses Erlebnis ausgewirkt?
Dieses Erlebnis machte mich darauf aufmerksam, dass es Dinge gibt, die man sich alleine nicht vorstellen kann. Vielleicht wurde damals mein Interesse für die Forschung geweckt, wer weiss?
Wie würden Sie dieses Phänomen erklären?
Wenn Verwunderungspotenzial per Zufall auf den richtigen Katalysator trifft, um sich zu entfalten, muss man nichts anderes tun als zuzuschlagen, ohne nach einer Erklärung zu suchen. Diese ist entweder offensichtlich oder so versteckt, dass man ihr nur durch eine Psychoanalyse auf den Grund kommen kann.
Hoffen Sie, dass Ihnen nochmals etwas Ähnliches passiert?
Erweckungserlebnisse sind in der Tat nicht immer leicht zu verdauen, sie stellen Grundhaltungen in Frage, an denen man vielleicht hängt. Aber als Forscherin gehört es zu meinem Job, derartige Irritationen nicht zu fürchten.
Konnten Sie ein solches Phänomen auch bei anderen beobachten?
Es ist ein Privileg als Lehrende, erleben zu dürfen, dass bei meinen Studenten Erkenntnisse ankommen und zu Veränderungen führen. Wenn der Groschen fällt, klingt es für mich immer himmlisch.
Haben Sie derartige «Initialzündungen» im Zusammenspiel mit anderen erlebt?
Die Zusammenarbeit ist immer eine befruchtende Erfahrung, aber individuelle Erhellung kann man schwer kollektivieren.
Gibt es ein Musikstück, das bei Ihnen einschlug wie ein Urknall?
Mein musikalisches Weltbild ist nicht zentralistisch, kein Universum, das expandiert, aber begrenzt ist, es sind viele Universen, und folglich haben viele Sternschnuppen meinen musikalischen Himmel belebt.
Komponist, Dozent, Juror, Lehrbeauftragter
Werdegang: Gitarren-, Klavier- und Posaunenunterricht, Lizenziat und Doktorat als Jurist in Neuenburg, Kompositionsstudium an der Zürcher Hochschule der Künste, Studienaufenthalt an der Royal Academy of Music in London, Meisterkurse u.a. bei Klaus Huber, Sylvia Caduff, Alfred Reed sowie an der Vanderbilt University.
Was würden Sie als Urknall in Ihrem Musikerleben bezeichnen?
Als Schüler spielte ich in Bands vor allem Pop, Folk und Blues, also quasi lineare Musik. Dann entdeckte ich die «Räumlichkeit» des Klangs im klassischen Orchester, was mich sehr rasch zum Komponieren brachte. Dieses Urknallerlebnis der Klangtiefe und -vielfalt im Blas- und Sinfonieorchester wird regelmässig erneuert durch gelungene Aufführungen eigener Musik, die in mir die Freude und Motivation am Komponieren wachhalten.
Urknallartig erlebe ich aber auch Momente im Kompositionsprozess, in denen sich irrationale Entwicklungsschritte ereignen – dann, wenn ich erste Entwürfe schlagartig in einem anderen Licht sehe, neue Zusammenhänge verstehe und die Musik ihre Form selbst zu finden beginnt. Solche Momente – ist das vielleicht «Inspiration»? – gehören zu den wichtigsten und auch freudvollsten beim Komponieren. Ich kann sie aber nur begünstigen, nicht erzwingen.
Wie hat sich dieses Erlebnis ausgewirkt?
Die Entdeckung des «Klangraums» hat in mir eine Leidenschaft für die Musik und das Komponieren hervorgerufen, die bis heute nicht versiegt ist. Seither habe ich fast ohne Unterbruch komponiert, und seither bestimmt Musik den Rhythmus meines beruflichen Lebens. Denn obschon ich neben dem Komponieren auch andere Tätigkeiten verfolgte und verfolge, entschied ich mich bei wichtigen Wegkreuzungen stets für die Musik.
Die Urknallmomente beim Komponieren selbst, diese Momente irrationalen Verstehens, sind enorm wertvoll und machen vermutlich einen Kompositionsprozess überhaupt erst möglich, unabhängig von Medium oder Stil.
Wie würden Sie dieses Phänomen erklären?
Die Urknallmomente beim Komponieren kann ich nicht erklären. Ich nehme sie dankbar entgegen, wenn sie sich ereignen. Ebenso wenig weiss ich, weshalb mir das Komponieren Freude bereitet.
Erwarten Sie, dass Ihnen nochmals etwas Ähnliches passiert?
Dass Ideen «zünden», erhoffe ich mir für jedes neue Stück.
Konnten Sie ein solches Phänomen auch bei anderen beobachten?
Manchmal glaube ich zu spüren, ob die Werke anderer Komponisten inspirierter oder weniger inspiriert sind – also einem Urknall näher oder ferner –, aber das ist natürlich nur ein subjektiver Eindruck. In Aufzeichnungen alter Komponisten, etwa bei Beethoven, Berlioz oder Mahler, findet man zuweilen Hinweise darauf, dass auch sie in ihrer Arbeit urknallartige Momente erlebten.
Haben Sie derartige «Initialzündungen» im Zusammenspiel mit anderen erlebt?
Ich schreibe eher, als dass ich spiele, aber gelegentlich spiele ich mit Freunden zusammen Blues und Jazz. Und in da habe ich «Initialzündungen» immer wieder erlebt.
Gibt es ein Musikstück, das bei Ihnen einschlug wie ein Urknall?
Das war eindeutig die sechste Sinfonie von Beethoven. Sie enthält viele Kräfte, denen ich auch in meiner eigenen Musik nachspüre: ein Wechselspiel zwischen Puls und Klangfläche; eine Synthese zwischen Gefühlshaftigkeit und Struktur, zwischen emotionalem Raum und Klangraum; und eine der Folklore nachempfundene Melodik, die gleichzeitig in konkreter und abstrakter Gestalt erscheint. Aus solchen gegensätzlichen Energien schafft Beethoven ein Ganzes.
Seither wurden weitere Musikstücke aus diversen Stilrichtungen für mich richtungsweisend, beispielsweise Das Lied von der Erde von Mahler, Edgar Varèses Octandre, Contest Music von Wilfred Heaton oder Hangup your hangups von Herbie Hancock. Es gab auch einige Aufführungen mit einem «Nachbrenner», die mich beim ersten Hören eher irritierten, aber hartnäckig im inneren Ohr haften blieben, wie etwa das Oboenkonzert von Eliott Carter oder die Sinfonie von Webern.
Zwischen unterschiedlichen Stilwelten suche ich als Komponist bis heute nach möglichen Synthesen. In diesem Sinne erlebte ich auch ein Statement des britischen Komponisten Peter Maxwell Davies urknallartig. Es lautet, frei aus der Erinnerung übersetzt: «Man hat mir gelegentlich vorgeworfen, Musik in verschiedenen Stilen zu schreiben. So weit, so gut; aber jede Maske, die ich trage, ist aus lebendiger Haut gemacht, und jede dieser Masken trägt einen anderen Ausdruck desselben Gesichts.»