
Mario Schwarz
Dirigent Collegium Musicum Ostschweiz
Werdegang: Studium an der Akademie für Schul- und Kirchenmusik in Luzern an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Frankfurt
Was würden Sie als Urknall in Ihrem Musikerleben bezeichnen?
Beim Weiterstudium in Frankfurt bei Helmuth Rilling ging mir die Tür zur grossen Musik erst recht auf. Ob man dies als Urknall bezeichnen kann, hängt von der Interpretation des Wortes ab. Aber hier habe ich grosse Künstler kennengelernt; ich denke an Peter Lukas Graf, Peter Schreier, Arleen Augér und viele andere. Die Arbeitsweise von Helmuth Rilling und die Begegnung mit diesen Meistern haben mich künstlerisch und vielleicht auch menschlich geprägt.
Die plötzliche Erschliessung einer neuen Welt gab es nicht, aber ein Hineintauchen in die Welt der Musik mit überraschenden Erfahrungen, etwa bei der Uraufführung des Violinkonzertes von Heinrich von Herzogenberg. Das Bewusstsein, dass man ein Werk nach mehr als 100 Jahren noch zur Uraufführung bringen darf, war schon heftig. Es gibt da plötzlich persönliche Beziehungen zum Menschen Herzogenberg: Man begegnet seinem Freund Johannes Brahms, Frau Rilling erzählt, Herzogenberg sei der Taufpate ihrer Grossmutter gewesen und man lernt die Nichte des Komponisten, Frau Gräfin Johanna von Herzogenberg aus Böhmen kennen.
Wie hat sich dieses Erlebnis ausgewirkt?
Als «Schüler» trat ich hinaus in die «grosse Welt». Bis dahin war ich Schul- und Kirchenmusiker. Mein Blickfeld war auf diese Aufgaben beschränkt. Erst in Frankfurt habe ich gesehen, wie grosse Persönlichkeiten mit den Menschen arbeiten, habe das Lesen der Partituren vollkommen neu erlebt und Musikgeschichte und Musikwissenschaft mit der Praxis in Einklang gebracht. Ich habe bei Helmut Rilling erfahren, dass es viele Möglichkeiten gibt, Musik zu interpretieren, dass man sich aber für etwas entscheiden muss und trotzdem offen bleiben muss für Kritik, andere Meinungen und Entwicklungen. Diese Erfahrung hat meinen Horizont – gewachsen aus meiner Kinderzeit in einem Bündner Dorf und einer ersten Berufsbildung als Kaufmann (ich musste zuerst etwas Rechtes lernen) – massiv erweitert.
Vielleicht könnte man diese Erfahrung als Urknall bezeichnen. Jedenfalls wurde in mir der Wunsch geweckt, eigene Projekte zu verwirklichen. Durch die Bereitschaft immer wieder Neues zu lernen, entwickelte ich auch das nötige Selbstvertrauen.
Ich lernte Musik zu lesen. Lernte Text mit der Musik zu analysieren und die Symbolkraft der Musik in die Praxis umzusetzen. Erst hier ist mir klar geworden, dass Musikmachen nicht nur heisst, richtige Töne zu spielen, sondern jede Note in ihren Kontext zu stellen. Musik ist mehr, als die richtige Taste mit der richtigen Kraft zur richtigen Zeit herunterzudrücken. Musik beantwortet die Frage, wie schreite ich von einer Note zur anderen. Darin ist Leben, hinter den Noten steckt das Geheimnis.
Wie bahnten sich Veränderungen in Ihrem musikalischen Werdegang an und wie verliefen sie?
Selber setzte ich mir damals neue Ziele. So gründete ich das Collegium Musicum St. Gallen und übernahm den Kammerchor Oberthurgau Arbon. Mit diesen Ensembles konnte ich die grossen Oratorien aufführen. Das Collegium Musicum St. Gallen entwickelte sich zu einem Orchester mit dem ich nebst Barockmusik und klassischer Musik auch zeitgenössische Musik aufführen konnte. Mutig habe ich mich schon damals mit neuer Musik befasst und immer wieder unbekannte Werke zur Aufführung gebracht.
Hoffen Sie, dass Ihnen nochmals etwas Ähnliches passiert?
Es passiert mir immer wieder. Ich denke da an die Begegnung mit Komponisten. Gerade Uraufführungen geben tiefe Einsicht in ihre Arbeit. Wenn ich denke, wie grosszügig grosse Komponisten mit ihren Werken umgehen, auf der anderen Seite aber sehr genaue Vorstellungen haben. Hier zeigt sich auch immer wieder, dass grosse Musiker wesentlich grosszügiger sind als «Kleinmeister». Als Beispiel: Ich wollte vor den Proben der Aufführung von Paul Hubers Sinfonie mit ihm die Partitur durchgehen. Wir verabredeten uns in einem Kaffee in der Stadt. Ich wollte alles mit ihm besprechen und seine Intentionen erfahren. Da sagte er kurzerhand zu mir: «Mario, du machst es schon richtig. Wenn ich es nicht genau genug aufgeschrieben habe, bin ich selber schuld. Wenn ich einmal tot bin, kannst du mich auch nichts mehr fragen.» Wir redeten nachher aber noch zwei Stunden zusammen und es war ein wunderbares und lehrreiches Gespräch.
Konnten Sie ein solches Phänomen auch bei anderen beobachten?
Sicher ja, ich denke, dass jeder Musiker jede Gelegenheit wahrnehmen sollte, andere grosse Kollegen kennenzulernen und sich von ihnen inspirieren lassen.
Haben Sie derartige «Initialzündungen» im Zusammenspiel mit anderen erlebt?
Immer wieder erlebe ich, wie hervorragende Solisten neue Aspekte in die Musik hineininterpretieren. Das sind immer wieder zündende Erlebnisse.
Was mich auch immer wieder inspiriert sind Kompositionsaufträge. Jemand hat eine Idee. Aus dieser Idee folgen viele kleine Bausteine und zuletzt steht da eine Komposition. Die Zusammenarbeit mit Textdichtern, Komponisten und anschliessend mit den Interpreten ist ein unglaubliches Erlebnis. Ich denke da etwa an die Anfrage aus Heiden zum 100. Geburtstag von Henry Dunant. Welche Komposition soll entstehen? Eine Oper, eine Kantate, ein Singspiel oder …? Welcher Komponist könnte so etwas schreiben? Haben wir ein Libretto? Wie soll es schliesslich finanziert werden? So standen viele Fragen im Raum. Das Ganze dann begleiten zu dürfen und auf die Komposition auch Einfluss nehmen zu können ist wunderbar. Das erste Mal dann die Partitur in Händen zu haben ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
Gibt es ein Musikstück, das bei Ihnen einschlug wie ein Urknall?
Nein, das gibt es nicht. Bei mir war es immer ein Hineinwachsen in ein Werk. Da ist z. B. die Matthäus-Passion von Bach. Ich sage immer wieder: «Musik hören ist wunderbar, eine Partitur lesen ist oft wie eine Offenbarung.»