Finnische Unterrichtskultur hautnah erlebt
So einfach kann’s gehen: Eine Klavierlehrerin liest eine Notiz im VMS-Newsletter. Ein paar Monate später reist sie zu einem informellen Austausch an eine finnische Musikschule.
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- Foto: KBS
- Karin Berger-Sturm und Stephanie Reist auf der Fähre von Travemünde nach Helsinki
Niklaus Rüegg - Stephanie Reist, Klavierlehrerin an der Musikschule Worblental Kiesental, stolpert über folgende Notiz im VMS-Newsletter vom Januar 2019: «Das finnische Middle Carelian Music Institute sucht Kooperationen mit Schweizer Musikschulen». Reist, die etwas Finnisch spricht, war sofort interessiert, setzte sich mit der Leiterin der finnischen Schule, Susanna Ertolahti, in Verbindung und wird zu einem Klaviertag eingeladen. Und da ein Zufall selten allein kommt, traf sie in ihren letzten Sommerferien im Tram in Helsinki Karin Berger-Sturm, Präsidentin des Trägervereins Musikschule Worblental Kiesental. Stephanie Reist erzählte von ihrem Vorhaben und die beiden Frauen beschlossen spontan, die Einladung im September 2019 nach Finnland gemeinsam wahrzunehmen. Es handelte sich um eine reine Privatinitiative, die weder subventioniert noch von der Musikschule getragen wurde.
Das «Middle Carelian Music Institute» befindet sich in Tohmajärvi, einer Stadt, die rund 400 km nordöstlich von Helsinki und nahe der russischen Grenze liegt. Es handelt sich um eine Musikschule mit 750 Musiklernenden sowohl im Jugend- wie im Erwachsenenbereich und 50 Lehrpersonen. Die Musikschule deckt ein Einzugsgebiet von der Grösse der Kantone Bern und Solothurn ab. Der Unterricht findet in sieben Ortschaften mit insgesamt 35'000 Einwohnern statt. Die 30 Unterrichtsstandorte liegen zum Teil bis zu 80 Kilometer auseinander. Unterrichtet wird überwiegend in normalen Klassenzimmern aber auch eigenen Räumlichkeiten. Im neuen Schulhaus in Tohmajärvi, im Moment noch eines der grössten Bauprojekte der Gemeinde, sind für die «musiikkiopisto» eigene Räume eingeplant.
Hoher Bildungsanspruch
Der Klaviertag mit vielfältigen pädagogischen Themen fand am 23. September 2019 in Joensuu statt. In Referaten durften die beiden Gäste ihre Musikschularbeit bzw. die Rahmenbedingungen für die musikalischen Bildung aus Schweizer Sicht vorstellen. Während zwei Tagen konnte Stephanie Reist ausserdem Unterrichtshospitationen durchführen, Karin Berger-Sturm hatte in dieser Zeit Gelegenheit den Gemeindepräsidenten zu treffen - in Tohmajärvi gehört die Musikschule zu seinem Ressort - und die Administration der Musikschule kennen zu lernen.
In Finnland ist musikalische Bildung seit Ende der 1950er-Jahre in der Verfassung verankert und besitzt traditionell einen hohen Stellenwert. Das Angebot ist umfassend: neben dem Einzel- und Gruppenunterricht gehört zum Gesamtpaket Ensemble, wöchentliche Gehörbildung sowie Korrepetition - und dies zum Preis von 150 Euro pro Semester. Die Eltern zahlen fünf bis zehn Prozent der Gesamtkosten, der Staat Finnland 57 Prozent. Der Rest wird von den Gemeinden getragen. Die Aufwendungen für die Musikschule machen einen massgeblichen Teil des Bildungsbudgets aus. Die niedrigen Elternbeiträge lassen darauf schliessen, dass der Zugang zur ausserschulischen musikalischen Bildung in einem Masse gewährleistet ist, wie wohl kaum in einem anderen Land.
Der Musikunterricht umfasst Angebote für alle Altersgruppen. Das geht los mit musikalischen Angeboten für Kleinkinder ab drei Monaten, über Kleinkindergruppen, Kindergarten, alle Schulstufen bis hin zur Erwachsenenbildung. An der Volkshochschule können Erwachsene Musikunterricht für 60 Euro pro Semester belegen.
Der Austausch an der finnischen Musikschule war für die beiden Schweizerinnen sehr intensiv und wertvoll. Ob und in welcher Form das Projekt eine Fortsetzung findet, ist noch völlig offen.