FMB 2020: Digitalisierung zwischen Freiheitsgewinn und Zivilisationsverlust
Was haben Erfindungen wie der Buchdruck oder die Dampfmaschine mit der Digitalisierung gemein? Der Soziologe Armin Nassehi hält in seinem Referat am FMB spannende Antworten bereit.
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- Foto: Hans-Günther Kaufmann
- «Auf welche Probleme gibt die digitale Technik Antworten?»
Niklaus Rüegg - Gemeinhin herrscht die Auffassung, dass die Digitalisierung daran sei, unsere ganze Lebens- und Arbeitswelt in wenigen Jahren quasi überfallsartig und disruptiv auf den Kopf zu stellen. Der renommierte Soziologe Armin Nassehi, Lehrstuhlinhaber an der Universität München, geht einen Schritt zurück und erforscht die gesellschaftlichen Muster, welche sich die Digitalisierung zunutze macht: «Eine neue Technik setzt sich nur durch, wenn sie gebrauchsfertig ist und Probleme löst». Der Referent wird am FMB der Frage nachgehen, auf welche Probleme die digitale Technik Antworten gebe. Er geht von der These aus, dass das Phänomen «Mustererkennung» seinen Ursprung im 19. Jahrhundert bei der Entstehung der Nationalstaaten hatte. Der Aufbau politischer Systeme erforderte damals viel Planung und Berechnungen öffentlicher Bedürfnisse. Dabei machte man sich «Muster» zunutze, die auf Erfahrungswerten und Traditionen beruhten.
Neues Medium - alte Muster
Nassehi zieht gerne den Vergleich mit der Erfindung des Buchdrucks heran. Dieser brachte ein völlig neues Medium in die Gesellschaft, das ähnlich revolutionär war, wie die Digitalisierung heute. Man glaubte, durch die Verbreitung der Bibel die Menschen lehren zu können, was ein gottesfürchtiges Leben sei. Doch wurden gleichzeitig auch andere Geister geweckt. Offenbar hatte es in der Gesellschaft eine Disposition gegeben, sich verschiedene Lesarten vorstellen zu können. Das Problem, auf das der Buchdruck Antworten gab, war somit die Uneindeutigkeit von Interpretationen.
Und wie heisst das Problem, für welches die Digitalisierung die Lösung darstellt? Nassehi: «Die Komplexität der Gesellschaft, oder genauer, dass sich die Gesellschaft selber durch Mustererkennung verstehen kann». Mustererkennung gebe es inzwischen überall, auf Märkten, im politischen und im öffentlichen Raum, im Recht, in der Wissenschaft, bei der Polizei, bei der Strafverfolgung, überall haben wir es mit Daten zu tun, in denen wir Muster erkennen und daraus Erkenntnisse gewinnen. Das hat grundsätzlich sein Gutes, doch entstehen bei jeder Lösung von Problemen auch neue Probleme: «Es kommen neue Akteure ins Spiel, die im Besitz von Daten sind, und mit denen man am Anfang nicht gerechnet hat». Wo Daten anfallen, ergeben sich Kontrollmöglichkeiten über alle möglichen Prozesse, neue Geschäftsmodelle oder eine Überhitzung von Kommunikationsformen, die kaum mehr zu steuern sind.
Digitalisierung als Bildungsinhalt
Die Digitalisierung müsse verstanden und eingeordnet und darum selber zum Bildungsinhalt werden, davon ist Nassehi überzeugt. Sie ist eine Kulturtechnik, die man lernen müsse: «Wir müssen Fragen stellen wie: Wie kommen wir heute an Informationen? Wie geht man mit Suchmaschinen um, welchen Seiten darf ich vertrauen, welche Kompetenzen braucht es um in sozialen Netzwerken teilzunehmen?». Auch die Musik und der Musikunterricht sind von der Digitalisierung durchdrungen, auch wenn hier der analoge Teil durch nichts zu ersetzen ist. Die Verbreitung und Verarbeitung von Musik sind ohne digitale Technik nicht mehr vorzustellen. Die Computermusik ist inzwischen selbst zur Kunstform geworden.
Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass vom Barock bis zur Spätklassik die Entwicklung im Instrumentenbau ein Ergebnis radikaler technischer Entwicklungen war. Auf neue Bedürfnisse wurde mit Neuentwicklungen geantwortet. Das Prinzip der Mustererkennung gilt hier also ebenso wie auf anderen Gebieten.
Ist die Digitalisierung ein Freiheitsgewinn oder ein Zivilisationsverlust? Nassehi relativiert: «Wir erleben heute schon einen unfassbaren Kontrollüberschuss und gleichzeitig eine riesige Freiheit, wie man an Informationen kommt».
Armin Nassehi: Muster, Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019, Verlag Beck, München