Es tut sich was im Berner Oberland
Musikschulen, die sich einen Neubau leisten, sind die grosse Ausnahme in der Schweiz. Doch in letzter Zeit haben einige Schulen diesen Weg gewählt und damit sehr gute Erfahrungen gemacht.
-
- Foto: Niklaus Rüegg
- Sachliches Design und Funktionalität mit Erweiterungsmöglichkeiten
Musikschulhaus-Neubauten können sich lohnen.
Niklaus Rüegg – Im Jahr 2017 bezog die Musikschule Liestal (BL) einen Neubau und das Projekt in Bolligen (BE) ist auf gutem Weg. Vorgemacht hat es zuvor die Musikschule Oberland Ost in Interlaken: Ihr neues Domizil konnte im Sommer 2016 bezogen werden. MSO ist ein Verein, dem 27 Gemeinden über einen Gemeinschaftsvertrag angeschlossen sind. Die Schule zählt gegenwärtig rund 40 Lehrpersonen und gegen 600 Schülerinnen und Schüler. Die Jugend-Musikvereine Interlaken und Unterseen schicken ihre Mitglieder zur Ausbildung an die MSO. Er gehört mit zu den besten Kunden.
Vor dem Neubau fand der Unterricht an verschiedenen Orten statt, in einer alten Villa mit sieben Zimmern im Zentrum von Interlaken, in Schulhäusern oder bei den Lehrpersonen zuhause. Das Sekretariat befand sich an einem separaten Ort.
Sandro Häsler, seit 2003 Co-Schulleiter und seit zwei Jahren alleiniger Leitungsverantwortlicher stellte eine einfache Rechnung an: Er verglich die jährlichen Kosten für Fremdlokalitäten mit dem zu erwartenden Unterhalt für den Neubau. Die Differenz war minimal. Heute sind die Kosten bloss ein bis zwei Prozent höher als beim alten Modell. Selbstverständlich kann der Leistungsauftrag trotz des neuen Zentrums auch weiterhin nur mit dezentralisiertem Unterricht erfüllt werden.
Mit einem Beitrag am VMS-Best Practice-Wettbewerb am FMB 2018 und der ISO-Zertifizierung nach quarte im Jahr 2017 machte die Schule zusätzlich auf sich aufmerksam und stellte sich damit in die erste Reihe der Berner Musikschulen.
Was hat Euch auf die Idee gebracht, einen Neubau ins Auge zu fassen?
Die Raumsituation war schon seit vielen Jahren prekär. Nachdem wir die volle Kostenwahrheit erstellt hatten (viele Lehrpersonen hatten früher, ohne Raummiete zu verlangen, bei sich zuhause unterrichtet), sahen wir, dass wir bei gegen 70'000 Franken Mietkosten lagen. Damit sollte eine räumliche Verbesserung zu machen sein. Eine Arbeitsgruppe fing 2010 damit an, bestehende Gebäude anschauen, aber keines entsprach unseren Bedürfnissen. Ein Gemeinderat von Interlaken schlug uns 2011 schliesslich dieses Grundstück vor. Da hatte bis zum Hochwasser von 2005 ein Kindergarten gestanden, der nicht mehr benutzbar war und zurückgebaut werden musste. Seither lag das Land brach. Also fingen wir mit Vorabklärungen an.
Wie baut man ohne Kapital ein Haus?
Berechnungen ergaben, dass wir 2,8 Millionen benötigten. Glücklicherweise erhielten wir von zwei Gemeinden eine Million zu günstigen Konditionen plus Bürgschaft. Interlaken kam uns zudem mit günstigen Baurechtzinsen entgegen. Eine weitere Million mussten wir in Form einer Hypothek beschaffen. Dann blieben noch 800'000, die es zu sammeln galt.
Das Sammeln war wohl kein Spaziergang...
Die ersten 150’000 waren hart zusammen zu kriegen. Wir machten Crowdfunding, Benefizkonzerte und klopften bei Serviceclubs an. Dann stieg der Lotteriefonds mit 300’000 und eine Privatperson mit 200'000 ein. Zum Schluss hatten wir das Sammelziel sogar übertroffen und hatten 1'050'000 in der Kasse. Mit dem Überschuss leisteten wir uns noch einige Extras, wie eine Solaranlage auf dem Dach. Da die Zinsen gegenwärtig tief sind, können wir gar Rückstellungen machen.
Dieses Geldsammeln war unterm Strich eine super Marketingkampagne, die der MSO viel Goodwill brachte.
Hattet Ihr bei der Planung klare Vorstellungen, welchen Erfordernissen das Haus genügen sollte?
Ja klar. Wir nahmen eine Bedürfnisabklärung vor und liessen verschiedene Projekte ausarbeiten. Die Wahl fiel schliesslich auf ein Projekt einer Firma aus Unterseen.
Der Spatenstich war am 2. Juli 2015. Im Sommer 2016 konnten wir schon einziehen. Der Grundriss war gegeben, doch die Höhe ist erweiterbar. Wir haben jetzt ein Erdgeschoss und ein Obergeschoss. Insgesamt gibt es 15 Unterrichtsräume, davon einen mittleren Saal sowie einen grossen mit 150m2.
Habt Ihr bei der Planung mögliche künftige Entwicklungen bei den Lehr- und Lernformen mit einbezogen?
Ja schon, aber man kann nicht aufgrund von Hypothesen planen. Man muss vom gegenwärtigen Bedarf ausgehen. Wir haben aber die Option, ein Stockwerk oben drauf zu setzen. Dank einer grösseren Erbschaft sind wir bereits heute in der Lage, eine Erweiterung zu planen. Hier werden diese Überlegungen eine Rolle spielen. Variable Raumkonzepte werden ihren Platz haben. Bis in zwei bis drei Jahren sollten wir so weit sein.
Reichen die Räume für Interlaken?
Ja, im Moment schon, aber wir haben viele Anfragen zur Raumnutzung, unter anderem für Tanz und Ballett. Es ist geplant, diesen Bereich dereinst zu integrieren. Wir haben aber auch die Möglichkeit, beim benachbarten Berufsschulzentrum Räume temporär dazu zu mieten.
Kannst Du auch andern Schulen empfehlen, einen Neubau in Erwägung zu ziehen?
Absolut. Es ist eine Option unter vielen, die es abzuklären gilt. Es kann auch auf eine Renovation alter Gebäulichkeiten herauslaufen. Das kommt ganz auf die jeweilige Situation an. Wichtig ist, dass die Öffentlichkeit nicht das Gefühl bekommt, man werfe mit einem protzigem Auftritt Geld zum Fenster hinaus. Wir haben den Ball von Anfang an flach gehalten und funktional geplant. Wenn der Prozess so optimal läuft wie bei uns, ist ein neues Haus eine grosse Chance für die ganze Institution. Die Schule hat enorm an Ausstrahlung gewonnen. Alle kennen uns und das Haus ist, auch im Zusammenhang mit quarte, zum Symbol für erstklassigen Unterricht geworden.
Die Lage ist optimal, mitten in einem Schulgelände...
In der Tat. Gymnasium und Berufsschulzentrum liegen in unmittelbarer Nähe. Ein paar hundert Meter weiter befindet sich die Primarstufe 3 bis 6.
Da drängt sich wohl eine Zusammenarbeit förmlich auf?
Wir sind in gutem Kontakt mit den Volkschulen und suchen gemeinsam nach Lösungen. Wir sind ständig präsent mit Instrumentenvorführungen etc.. Gerade sind wir intensiv daran, im Rahmen des Lehrplans 21 mit den Schulen eine Lösung mit Zeitfenstern für den Instrumentalunterricht zu finden. Es ist ja ein Riesenproblem, dass der Instrumental- und Gesangsunterricht durch die neue Stundentafel und die Tagesstrukturen immer mehr an den Rand gedrängt wird. In den Schulen hier in der Umgebung spüre ich viel Verständnis. Man ist interessiert an guten Lösungen im Sinne des Kindes. Das vergessen die Leute in gewissen Gremien manchmal.
Stichwort «quarte»: Wann ging es los damit?
Ich bin im leitenden Ausschuss des Berner Verbands und habe die Entwicklung von quarte hautnah mitbekommen. Ich hatte festgestellt, dass die Schulen, die quarte implementiert hatten, mir sehr entsprachen. Deshalb wollte ich es auch einführen, und zwar das umfassende quarte III. Hector Herzig hat unseren Prozess von Anfang an begleitet, hat uns insgesamt fünf Tage besucht und mit uns die Prozesse durchgearbeitet. Das war die beste Weiterbildung, die ich je hatte. Seine Liebe zur Sache und sein Engagement war für uns ganz wichtig. Der Startschuss war 2014 und die Zertifizierung erfolgte im Juli 2017. Vor ein paar Tagen hatten wir unser Aufrechterhaltungsaudit. Da hat uns Margot Müller auf Herz und Nieren geprüft. Es ist toll, sich jedes Jahr einem solchen Audit stellen zu dürfen.
Ein unglaubliches Pensum: erst der Neubau und ein Jahr später quarte. Was hat quarte der Schule gebracht?
Das Entscheidende ist der Prozess, die ganze Organisation zu durchleuchten, zu überdenken und anhand des Demingkreises zu reflektieren, ob wir wirklich das machen, was wir sagen. Die Auswirkungen auf den Musikschulalltag sind enorm. Man hat ein besseres Controlling, man evaluiert Prozesse, befragt die Anspruchsgruppen und erhält so wichtige Informationen, um die Schule besser an die Kinder und die lokalen Bedürfnisse und anzupassen.
Wie weiss man, wann welche Aktion vorgenommen werden muss?
Wir haben eine To-do-Liste online, auf der die wiederkehrenden Sachen notiert und den zuständigen Personen zugeordnet werden. Es ist wichtig, Standards zu haben, an denen man sich orientieren kann, ohne sich sklavisch daran halten zu müssen.
Wie oft bist Du mit den Erfordernissen von quarte konfrontiert?
Tagtäglich. Vieles von dem, was zum Beispiel als Formular oder Prozess im Organisationsbuch eingefügt ist, gab es ja schon früher. Es ist jetzt einfach Teil der Gesamtstruktur. Die lernende Organisation lebt davon, personenungebunden zu funktionieren. Wenn ich morgen ausfalle, läuft alles auch ohne mich seinen gewohnten Gang.
Wie läuft beispielsweise die Besetzung einer Stelle ab?
Sagen wir, es gebe drei verschiedene Anstellungsoptionen, eine aufgrund einer Stellvertretung, einer Berufung oder einer Ausschreibung, dann sind alle diese Prozesse im Handbuch detailliert beschrieben und jeder kann sie nachlesen. Transparenz ist einer der ganz grossen Vorteile dieses Systems. Der Vorwurf der Bürokratie ist völlig verkehrt, im Gegenteil, die beteiligten Personen werden durch quarte stark entlastet.
Auf welchem Gebiet hat quarte am meisten gebracht?
Das Bewusstsein aller Beteiligten hat sich enorm erhöht. Der Teamgeist hat sich durch das gemeinsame Arbeiten am Qualitätsmanagementsystem stark entwickelt und dem Einzelkämpfertum der Lehrpersonen entgegengewirkt. Im Hinblick auf zukünftige politische und finanzielle Entwicklungen, die man heute noch nicht abschätzen kann, sind wir mit quarte sicher gut aufgestellt.
Hatte die Implementierung von quarte auch eine Aussenwirkung?
Ja, sehr. Für die Politiker bedeutet das ISO-Label von vornherein eine höhere Legitimationsstufe. Die Tatsache, dass wir im ISO-Zertifizierungsprozess waren, hatte uns damals beim Fundraising für das neue Haus entscheidend geholfen.
Am Best Practice-Wettbewerb des VMS hat deine Schule mit einem Musiktheaterprojekt auf sich aufmerksam gemacht. Wie kam es zu diesem spannenden Beitrag?
Wir haben das Glück, dass wir drei Lehrpersonen haben, die selber Theaterstücke schreiben und die ganze Produktion von Kostümen und Bühnenbild bis zur Einstudierung selber besorgen. Diese Tradition lebt bei uns schon seit bald 20 Jahren. In der Regel gibt es alle zwei Jahre eine Produktion. Die Kinder haben die Wahl, singend und spielend auf der Bühne, oder musizierend im Orchester mitzuwirken. Da ist viel Idealismus dabei, denn das Ganze frisst viele persönliche und schulische Ressourcen. Wir wollen das Fuder nicht überladen und machen möglichst nicht mehr als ein grosses Projekt pro Jahr.
Im vergangenen Frühling habe ich von einem anderen spannenden Projekt gelesen: Sie holen Weltklassemusiker an Ihre Schule...
Ich stand diesem Konzept «Weltklassik am Klavier» anfänglich sehr skeptisch gegenüber. Unterdessen finde ich es für die Künstler eine akzeptable Lösung, um zu Auftritten zu kommen. Gerade für Solo-Pianisten gibt es ja nicht gerade Möglichkeiten wie Sand am Meer. Für die auftretenden Pianistinnen und Pianisten sind die Konzertreihen eine willkommene Abwechslung und Nagelprobe im täglichen Übemarathon.