FMB 2018: Deutsche Musikschulen als Bildungsinstitutionen anerkannt

Niklaus Rüegg, 06.11.2017

Die 930 deutschen Musikschulen haben sich gemeinsamen Qualitätskriterien verpflichtet.

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«Musikschulen müssen zu offenen, «selbstbestimmten» Lieblingsorten der Kinder und Jugendlichen werden.»

Niklaus Rüegg – Der Pianist, Kammermusiker und Kapellmeister Ulrich Rademacher musizierte in einigen der wichtigsten europäischen Musikzentren, in Amerika, Israel, Russland, Afrika und Südostasien. Als Gastdirigent leitete er verschiedene deutsche Orchester. Seit 1978 lehrt er das Fach Liedinterpretation, zurzeit als Honorarprofessor an der Musikhochschule Köln.
Im Jahre 1989 wurde Rademacher zum Direktor der Westfälischen Schule für Musik der Stadt Münster berufen. Seit 2013 ist er Bundesvorsitzender des Verbandes deutscher Musikschulen (VdM) und Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrates. Auf internationaler Ebene vertritt er sein Land in der Europäischen Musikschulunion (EMU). Seit 2017 leitet er den Projektbeirat «Jugend Musiziert» und ist Vorsitzender der Gesamtjury der Bundeswettbewerbe.
Ulrich Rademacher wird am ersten Tag des FMB 2018 am 19. Januar in Baden über die Musikalische Bildung in Deutschland sprechen.

Herr Rademacher, Sie arbeiten nicht nur als Musiker und Lehrer sondern auch als Schulleiter, Verbandsfunktionär und in andern wichtigen Gremien, wie zum Beispiel bei «Jugend musiziert». Was reizt Sie an dieser Aufgabenvielfalt?
Musik machen, unterrichten und die Sorge um gute Rahmenbedingungen gehören für mich zusammen, sind ein Beruf. Wenn ich selbst übe und um gute Lösungen für das Erarbeiten und Präsentieren von Musik ringe, oder wenn ich spüre, wie gross das Glück ist, ein Konzert spielen zu dürfen, kann ich besser unterrichten. Wenn ich durch mein praktisches Tun erfahre, welche Rahmenbedingungen musikalische Bildung braucht, kann ich sie authentisch von Politik und Gesellschaft einfordern und soweit mir möglich im eigenen Umfeld gestalten. Wenn ich vor 50 Jahren als Teilnehmer, später dann als Lehrer, Vater und Juror den Wettbewerb «Jugend musiziert» erlebt habe und weiss, welche Energie und Kreativität, aber auch welche Krämpfe und Destruktivität Wettbewerbe bewirken können, liegt es für mich nahe, «Jugend musiziert» verantwortlich zu gestalten.

Wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand der musikalischen Bildungslandschaft in Deutschland?
Wenn wir wirklich alle Kinder erreichen wollen, brauchen wir für die musikalische Bildung sämtliche Stile und Genres, die volle Professionalität der Pädagogen, die leidenschaftliche Flamme der Künstler, das komplette Netzwerk der Kommunalen Bildungslandschaft. Dies ist nur möglich in gesicherten Strukturen, nicht aber im ständigen Wechsel von Projekt zu Projekt, dies ist nur möglich in auf Langfristigkeit angelegten Bildungsprozessen und erfordert die gesellschaftliche Wertschätzung derer, die mit musikalischer Bildung zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft und zum Weiterleben unseres kulturellen Erbes beitragen.
Der VdM fordert in seinem «Stuttgarter Appell» die Träger seiner Musikschulen auf, sich klar für Anstellungsverhältnisse zu entscheiden und überall dort, wo dieses Ziel noch nicht erreicht ist, den Anteil an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen kontinuierlich zu erhöhen. Der Deutsche Musikrat hat sich dieser Forderung angeschlossen und ein Minimum von 80 Prozent Festanstellungen an öffentlichen Musikschulen gefordert.

Im Jahr 2007 erhob der VdM einige «Zentrale Forderungen» an die Bildungs- und Kulturpolitik, die da waren: die Musikschulen als Bildungsinstitutionen anzuerkennen, die Zusammenarbeit mit den öffentlichen Schulen voranzutreiben, den Zugang im Rahmen der Ganztagesstrukturen zu gewährleisten sowie Regelungen für Angebote im frühen Kindesalter zu treffen. Fanden Sie damals Gehör?

Ja, wir fanden Gehör! Dass Musikschulen Bildungseinrichtungen sind, ist mittlerweile in Politik und Gesellschaft Konsens; deutlich absehbar in den Leitlinien und Hinweisen der kommunalen Spitzenverbände und dem sogenannten KGSt-Gutachten, beides Papiere, an denen sich kommunales Handeln orientiert. Programme und Projekte wie JeKi, JEKISS, Jekits, Wir machen die Musik, Musikland Niedersachsen, SBS, MoMo haben die Musikschulen zu unverzichtbaren und strukturell vernetzten Partnern der allgemeinbildenden Schulen gemacht. Der Bildungsplan «Musik für die Elementarstufe/Grundstufe» ist 2010 im VdM-Verlag erschienen. Er bietet ausführliche Beschreibungen aller Angebotsformen in der Elementarstufe/Grundstufe, wie sie im neuen VdM-Strukturplan aufgeführt sind. Daneben enthält er Kapitel zu kultureller Vielfalt und Inklusion in der Elementarstufe/Grundstufe, umfassende Kapitel zu Kooperationen mit Kindertagesstätten und Grundschulen, eine umfangreiche Literaturliste mit Übersichten über gängige Lehrwerke sowie zahlreiche Materialien und Dokumente auf einer beiliegenden CD-ROM.

Auf welche Errungenschaften der musikalischen Bildung in Deutschland sind Sie stolz?
Auf ein Netzwerk von 930 Musikschulen, mit 1,4 Millionen Schülerinnen und Schülern und 39’000 Lehrkräften, die sich gemeinsamen Qualitätskriterien verpflichten, die von Politik und Gesellschaft als Bildungs- und Kulturinstitutionen wertgeschätzt werden, die mit Hochschulen, Orchestern, Laienmusik, allgemeinbildenden Schulen vor Ort und im deutschen Musikrat gut vernetzt sind und vielerorts in gesicherten Strukturen arbeiten können. Die föderale Struktur Deutschlands drückt zwar oft auf das Tempo, wenn dringende Reformen anstehen, lässt es aber auch zu, dass diejenigen, die voranschreiten wollen, dies in eigener Verantwortung können und die anderen am Ende überzeugen.

Wo sehen Sie im Musikschulwesen ihres Landes den grössten Handlungsbedarf?
Es kann nicht länger sein, dass Träger- und Fachverbände in der musikalischen Bildung bestenfalls nebeneinander her arbeiten, nur den eigenen Beitrag im Fokus haben und dabei die dringende Notwendigkeit einer Abstimmung der Rollen und Beiträge zum «Grossen Ganzen» nicht sehen. Daher hat sich eine «Föderation musikpädagogischer Verbände» gegründet, in der jenseits von vereinsrechtlichen Strukturen und Hemmnissen gemeinsam an Eckpunkten zu einem Gesamtkonzept Musikalische Bildung gearbeitet wird.
Die deutschen Musikhochschulen haben in den letzten Jahren viel investiert, um den Musikschulen immer mehr Lehrkräfte anzubieten, die nicht deswegen zu uns wollen, weil es mit der Solokarriere nicht geklappt hat, sondern weil sie überzeugte Pädagogen sind, die ihr Handwerk gelernt haben und hier erfolgreich sein wollen.
Es müssen aber auch vielfältige und durch gutes Coaching begleitete Umorientierungsmöglichkeiten während des Studiums geboten werden. Ebenso Weiterbildung für gestandene Lehrkräfte, die gegen einen Burnout kämpfen oder auf dem Boden gesicherter Berufserfahrungen ihren Horizont erweitern wollen.
So sehr Musikschulen für die Umsetzung ihres Bildungsauftrages Strukturen und Lehrpläne brauchen, so müssen sie auch zu offenen, «selbstbestimmten» Lieblingsorten der Kinder und Jugendlichen werden, wo Lehrende als Übende erlebt werden können, wo Jugendliche «ihre» Musik präsentieren, sich darüber austauschen und gemeinsam musizieren können. Wir sollten viel mehr Gelegenheiten schaffen und nutzen, Vielfalt als Reichtum, Chance, Charme, Reiz, Quelle der Freude und Inspiration zu erleben. Lustvoll.