FMB 2018: Integration und Austausch
Warum ist die Musik eine enorme Chance für die Integration? Dieser und andern Fragen geht Ueli Mäder am FMB 2018 nach.
Unter dem Titel «Veränderung: Chance oder Gefahr? Der Einfluss von Megatrends auf die musikalische Bildung» beleuchtet das FMB am 19. und 20. Januar 2018 die Auswirkungen aktueller gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen wie Migration, demografische Veränderungen und Digitalisierung auf die musikalische Bildung und zeigt mögliche Antworten auf. Im Vorfeld stellt der VMS die renommierten Referenten vor. Die Serie beginnt mit Jonathan Bennett und Ueli Mäder.
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- Foto: Niklaus Rüegg
- «Die Musikschulen sollten ihren hohen Wert in der Öffentlichkeit sinnlich wahrnehmbar zeigen»
Niklaus Rüegg – Ein Soziologe untersucht, wie die Gesellschaft funktioniert, wie gesellschaftliche Normen entstehen. Dabei kann er von Realitäten oder Megatrends ausgehen, aber auch von Alltagssituationen, wie es Ueli Mäder in einem neusten Buch «Dem Alltag auf der Spur» tat. In seiner Untersuchung aus dem Jahr 2015 «macht.ch – Geld und Macht in der Schweiz» zeigt Mäder auf, wer wie viel Macht in der Schweiz hat und welche Rolle das Geld dabei spielt.
Der bekannte, politisch links stehende Wissenschaftler Mäder war ordentlicher Professor für Soziologie an der Uni Basel und wurde 2016 emeritiert. Eines seiner Hauptforschungsthemen ist die soziale Ungleichheit (Reichtum/Armut, Integration/Ausschluss). Im Moment arbeitet er an einem Buch über die 68er-Jahre. Ueli Mäder wird am FMB 2018 zum Themenkreis Migration aus soziologischer Sicht, Integration und Inklusion referieren.
Herr Mäder, Sie sind ein Kritiker der Konzentration des Geldes und der wachsenden sozialen Ungleichheit. Worin liegt die gesellschaftspolitische Problematik dieses Phänomens?
Durch die zunehmende Konzentration des Geldes entstehen Kollisionen mit dem urdemokratischen Prinzip. Das Gelddenken dehnt sich auch auf immer mehr kulturelle und soziale Lebensbereiche aus. Da gehen humane Werte verloren. Ein weiterer Punkt ist die zunehmende Ungleichheit derer, die immer mehr haben und derjenigen, die nicht Schritt halten können oder gar zurückbuchstabieren müssen. Das gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Früher herrschte auch bei Wirtschaftskapitänen noch die Überzeugung vor, dass Arbeit und Kapital in einem ausgewogenen Verhältnis stehen sollten. Heute sagt Ihnen ein Banker, was die Arbeit wert ist, entscheide der Markt. Der Grundsatz müsste aber lauten: Einer Gesellschaft geht es gut, wenn es allen gut geht. Das ist übrigens ein Gedanke des politischen Liberalismus.
Wie ist der Wandel gesellschaftlicher Normen zu erklären?
Gesellschaftliche Normen entstehen durch die Praxis. Wenn zur Praxis wird, dass einfach das wahr und gut ist, was sich durchsetzt, dann bestimmt uns ein utilitaristisches Prinzip. In meiner Jugend setzte die Pädagogik stark auf Drill und Strafe. Die Erziehung war defizitorientiert. Ähnlich lief es übrigens auch im Musikunterricht. Es war ein Segen, als dann die Vernunft mehr Einzug hielt. Jetzt mussten die Erziehenden wenigstens Argumente bringen und nicht nur etwas machen, weil man es immer so gemacht hatte. Heute müssen wir aufpassen, dass wir nicht wieder zurückfallen in den engen Sanktions-Mechanismus früherer Jahre. Das Creditpoint-Denken an der Uni unterläuft teilweise die innere Motivation. Ich sehe heute aber auch viel Bereitschaft, eigene Kompetenzen zu fördern und soziale Verbindlichkeiten einzugehen und zwar aus freien Stücken.
Was könnte das für die musikalische Jugendarbeit bedeuten?
Ich bin im Handball und Fussball engagiert, spiele auch selber noch und berate Vereine. Ich sage den Clubs, hört auf mit dem trendigen Wellnessgetue und mit den übersteigerten Angeboten, nur um an mehr Mitglieder heran zu kommen. Nein, es soll einen Preis haben mitzumachen. Sprecht engagierte Leute an, die leistungsbereit sind. Im Musikunterricht könnte es ähnlich sein. Es gilt, die Leute inhaltlich zu begeistern und bei der Neugier abzuholen, statt ihnen durch immer attraktivere Reize zu «chüderle».
Stichwort Migration: Heisst Integration Anpassung oder Auseinandersetzung mit dem Fremden?
Früher dominierte ein dualistisches Konzept: Integration oder Ausschluss. Heute
scheint mir der Gedanke des Austauschs, bei dem beide Seiten etwas lernen sehr
wichtig. Menschen aus andern Kulturen müssen etwas einbringen können, das
ihnen vertraut und lieb ist und dies wird umgekehrt ihr Interesse fördern,
etwas von unserer Kultur aufzunehmen. Eine Tochter von uns ist Lehrerin und hat
polnische Kinder in ihrer Klasse. Also singen sie auch polnische Lieder im
Unterricht. Das hilft eindrücklich: Die Kinder leben auf, fühlen sich
angenommen und diese Kraft überträgt sich auch auf andere Bereiche. Durch Annäherung entsteht Vertrauen, man lernt aber auch Differenzen und Grenzen kennen. Wir können das Fremde nicht einfach verstehen, aber wir können es zulassen. Musik ist sinnlich wahrnehmbar, wirkt verbindend ist deshalb eine enorme Chance für die Integration.
Auch in der musikalischen Bildung spielt Geld eine immer zentralere Rolle. Sparmassnahmen werden immer häufiger...
Heute wird immer mehr ökonomistisch argumentiert. In einem Vortrag an der Hochschule St. Gallen habe ich aufgezeigt, wie die Altersvorsorge rentiert, weil sie über Miet- und Konsumausgaben viele Arbeitsplätze schafft. Mit dieser Argumentation bin ich dort gut angekommen. Aber was wäre, wenn die Altersvorsorge nicht rentierte? Haben ältere Menschen nicht ein Recht auf Lebensqualität? Und was für ein hoher Wert ist die Musik? Es ist wohl richtig, mit den vorhandenen, beschränkten Mitteln gut zu haushalten, doch sollte eine Musikschule den Nutzen ihres Tuns nicht ständig bürokratisch unter Beweis stellen müssen. Sie sollte sich jedoch schon immer überlegen, wie sie der Gesellschaft etwas zurückgeben und ihren hohen Wert in der Öffentlichkeit sinnlich wahrnehmbar zeigen kann.