FMB 2016: Integration der musikalischen Bildungsbereiche
Timo Klemettinen spricht am FMB über Finnlands musikalische Bildungstradition und über schülerorientierte, ganzheitliche Lernkonzepte.
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- Foto: Niklaus Rüegg
- «Die Musikschulen müssen ihr Angebot und ihre Arbeitsmethoden reflektieren, um unverzichtbar zu bleiben.»
In Finnland denkt man über den ganzheitlichen Musikunterricht nach
Niklaus Rüegg – Der Finne Timo Klemettinen hat an der Sibelius Akademie Musik studiert, arbeitet als Musiker, Komponist, Musiklehrer und Musikschulleiter. Er ist Präsident des finnischen Musikschulverbands und war Vorsitzender des finnischen Musikrats. Seit 2015 ist er Managing Director der European Music School Union (EMU). Am FMB 2016 wird Klemettinen über neue Lehrerrollen, verschiedene Formen der Musikpädagogik für unterschiedliche Zielgruppen, das Konzept einer ganzheitlichen Musikerziehung sowie über die Rolle der musikalischen Bildung in der Gesellschaft sprechen.
Herr Klemettinen, Finnland hat eine starke musikalische Bildungstradition. Nennen Sie mir die Gründe, weshalb das finnische System so erfolgreich ist.
Eine eigene Gesetzgebung und eine starke öffentliche Finanzierung bilden die Basis der finnischen Musikerziehung. Der Staat steuert 54 Prozent der Kosten bei, die Gemeinden 30 und die Familien 16 Prozent. Eine wahre Erfolgsgeschichte ist die frühkindliche Musikerziehung (0 bis 6 Jahre) mit mehr als 25’000 teilnehmenden Kindern. Die Kinder lernen hier spielerisch musikalische Elemente (Rhythmus, Melodie, Harmonie, Dynamik, Klangfarben und musikalische Formen). Das Hauptziel dabei ist, eine Basis für eine lebenslange positive Beziehung zwischen dem Kind und der Musik zu legen. Die Lehrpersonen in diesem Bereich durchlaufen eine spezielle Master-Ausbildung. Der Instrumentalunterricht beginnt in der Regel so im Alter von fünf Jahren. 99 Prozent aller Musiklehrpersonen in Finnland haben mindestens einen Master-Abschluss. Somit ist das Niveau im ganzen Land ähnlich hoch. Die musikalische Bildung hat in Finnland eine lange Tradition und geniesst in der Gesellschaft ein hohes Ansehen.
Vor welchen Aufgaben steht heute die musikalische Bildung in Finnland?
Wir haben Kinder, die überhaupt keine Hobbys haben und solche mit zu vielen. Obwohl unser System auf Gleichheit baut und den Zugang für alle gewährleistet, haben wir Kindern, die nicht an ausserschulischen Angeboten teilnehmen, aus welchen Gründen auch immer. Auf der andern Seite können sich manche Kinder mit vielen Freizeitaktivitäten nicht auf ein bestimmtes Hobby konzentrieren. Kurz: der Wettbewerb um die Freizeit der Kinder ist hart. Schliesslich hat auch der Wertewandel bei den Schülern und den Eltern eine grosse Auswirkung auf die Musikerziehung und das was von ihr erwartet wird. Das bedeutet, dass die Musikschulen ihr Angebot und Arbeitsmethoden reflektieren müssen, um unverzichtbar zu bleiben.
Das diesjährige Dachthema des FMB ist die Innovation in der musikalischen Bildung. Auf welchen Gebieten sehen Sie Möglichkeiten oder gar Notwendigkeiten für Innovation?
Mit Innovation in der Musikerziehung ist oft die Musiktechnologie gemeint. Natürlich hat diese einen starken Einfluss auf die musikalische Bildung und sie bietet grossartige Möglichkeiten. Doch der wirkliche Bedarf an Innovation liegt auf pädagogischem und methodischem Gebiet. Eine der grössten Aufgaben ist es, alle musikalischen Lernbereiche zu verbinden, um die Entwicklung der Lernenden ganzheitlich zu unterstützen. Das heisst zum Beispiel, dass Musiktheorie mit den Instrumentalstudien verbunden wird, dass Musiktechnologie eingesetzt wird, um einen Song zu komponieren, der schliesslich in der Kammermusiklektion gespielt wird. Ebenfalls nötig sind Innovationen, die die Kreativität der Lernenden fördern (z.B. Komposition und Improvisation).
Gibt es in der Lehrer-Schüler-Beziehung Ansätze für Neues?
Die Beziehung zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden steht im Zentrum des Unterrichts. Doch hat sich das traditionelle Meister-Lehrling-Muster in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. An den Konservatorien werden traditionsgemäss westliche Traditionen der klassischen Musik auf die Studenten übertragen. Das ist ein top-down Unterrichtsprinzip. Die Rolle des Lehrenden entwickelt sich heute weg vom Autoritären hin zum Mentor. Die Lehrperson begleitet den Lernenden auf seiner musikalischen Reise, teilt Ideen und Emotionen mit ihm, unterstützt und ermutigt ihn. Dabei muss das musikalische Lernen aber immer zielorientiert bleiben.
Die traditionelle Lehrerrolle muss also hinterfragt werden?
Offensichtlich gibt es eine Spanne zwischen den Polen der traditionellen Pädagogik und dem schülerzentrierten Unterrichten. Ich meine, dass nicht automatisch die eine oder andere Art besser oder schlechter sei. Wichtig ist, dass den Lernenden die Freude am Musizieren vermittelt wird, dass sie lernen und sich entwickeln können. Erfahrene Lehrpersonen habe die Gabe, ihre Lernenden als Individuen zu sehen und auf sie zugeschnittene Lernwege zu entwickeln.
Haben die traditionellen Unterrichtsmethoden noch Gültigkeit, oder müssen sie an veränderte Bedingungen angepasst werden?
Es ist sehr wichtig, dass wir unsere Musikerziehung mit Respekt vor der Tradition erneuern, indem wir neue Unterrichtsmethoden auf bestehenden Fundamenten aufbauen. Eine Neuerung ist das schülerorientierte, ganzheitliche Lernkonzept, durch welches sowohl das instrumentale Handwerk als auch die Kreativität gefördert wird. Im ganzheitlichen Lernen sind alle Fächer mit einander verbunden und die Lernenden verstehen, warum es nützlich ist, neben dem Instrumentalspiel andere Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben. Beim Instrumentalunterricht wird es bestimmt Veränderungen geben, aber noch grösser werden die Veränderungen bei den allgemeinen Fächern wie Musiktheorie, Solfège and Musikgeschichte sein, nicht zuletzt wegen des verstärkten Einsatzes von IT.
Herr Klemettinen, bitte berichten Sie uns von aktuellen innovativen Bestrebungen in der finnischen Musikerziehung!
Im Instrumentalunterricht befolgen die Lehrpersonen keine spezifischen Methoden wie Kodaly, Dalcroze oder Suzuki, sondern benützen diese und bringen sie mit ihrer eigenen Unterrichtsphilosophie in Einklang. Wir sind stark engagiert im Distance- und E-Learning (nachzulesen im «National curriculum for music technology 2014»). Das macht Sinn, zieht man die grossen geographischen Distanzen in unserem Land in Betracht. In den letzten Jahren haben wir auch viel Zeit und Ressourcen in die Entwicklung des Selbst-Evaluationssystems für Musikschulen «Virvatuli» gesteckt.
Übersetzung aus dem Englischen: Niklaus Rüegg