Das Forum Musikalische Bildung FMB mit interdisziplinärem Dachthema 

Begabungen und Talente

Niklaus Rüegg, 03.03.2014

Der Verband Musikschulen Schweiz (VMS) führte am 24. und 25. Januar 2014 in Baden das sechste Forum Musikalische Bildung durch. Im Zentrum stand die musikalische Begabungsförderung in der Schweiz.

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Bei Begabten leuchtet das Gehirn.
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Reges Interesse an Best Practice-Modellen

Das Forum Musikalische Bildung FMB mit interdisziplinärem Dachthema

Niklaus Rüegg – Unter dem Titel «Schlüssel zum Erfolg» wurde das Dachthema Begabungsförderung in zwei aufeinander folgenden Tagen interdisziplinär beleuchtet. Namhafte Referierende aus Wissenschaft, Pädagogik und Sport trugen zu vielschichtigen Einsichten und Erkenntnissen zum Thema Begabung bei. Im Zentrum der Veranstaltung stand die musikalische Begabungsförderung in der Schweiz, doch wurden auch andere Bereiche wie der Sport und die Migrationsforschung mit einbezogen. Dieses Jahr wurden als Premiere in einer Posterpräsentation zehn Best Practice-Modelle für Begabungsförderung im Bereich Musik aus allen Landesteilen der Schweiz vorgestellt.
Das FMB, 2007 vom VMS ins Leben gerufen, hat sich in den Jahren zu einer vielbeachteten, anspruchsvollen Informations- und Diskussionsforum entwickelt. Im letzten Jahr verordnete man sich eine schöpferische Pause, ging über die Bücher und positionierte sich neu mit einem «basisnahen» Dachthema.
Präsidentin Christine Bouvard konnte eine erfreulich grosse Schar an Teilnehmenden begrüssen. Jodok Kobelt war wiederum der gewandte und geistreiche Moderator. Das Orchester La Stravaganza aus Neuchâtel und das Trio Papillons als Allschwil sorgten für die stimmungsvolle musikalische Umrahmung. Mit einer philosophisch-kabarettistisch-musikalischen Stunde von hohem Unterhaltungswert und tiefgründigem Humor zum Thema Rhythmisierung von Zeit wurden die Forumsgäste von Mark Riklin und Roger Girod belohnt.

Viele Schlüssel zum Erfolg
Heute steht die musikalische Begabungsförderung in der Bundesverfassung. Alle Anspruchsgruppen haben somit den Auftrag sich aktiv um eine Ausgestaltung dieser Vorgabe zu bemühen. Folgerichtig vollzog man beim VMS in der Themenwahl für das FMB eine Hinwendung zum Inhaltlichen. Den einen «Schlüssel zum Erfolg» gibt es wohl nicht – dies wurde in den beiden Tagen klar. Man benötigt dazu – um beim Bild des Schlüssels zu bleiben – wohl eher einen dicken Schlüsselbund.
Als Auftakt der Veranstaltung gewährte die bekannte Schweizer Dirigentin Graziella Contratto dem Publikum einen persönlichen Einblick in die musikalisch-emotionale Entwicklung ihrer Kindheit. Lehrerinnenpersönlichkeiten wiesen ihr den Weg zwischen Lebensfreude und Spass am Musizieren auf der einen Seite und unerbittlicher Disziplin auf der andern. Während der sieben Jahre als Intendantin des Davos Festival – young artists in concert lernte sie die Welt der Begabten hautnah kennen: «Talente sind entweder Jäger oder Sammler», fasst sie ihre Erfahrungen zusammen. Die einen sind extrovertiert und sprunghaft und wollen immer wieder Neues kennen lernen, während die andern eher hingebungsvoll an sich und am Repertoire arbeiten. Contratto ist der Ansicht, dass beide Typen von einander lernen sollten.


Früher Kompetenzerwerb
Stefan Koelsch, Professor für Musikpsychologie und Biologische Psychologie an der Freien Universität Berlin, referierte aus neurowissenschaftlicher Sicht über das Thema «Die Entwicklung von Musikalität». Die Erkenntnis, dass die sprachliche und musikalische Entwicklung bereits im Mutterleib beginnt, ist zwar nicht ganz neu, doch die Stringenz, mit der Koelsch sie darlegte, war verblüffend. Diese schon früh ausgebildeten sprachlich-musikalischen Kompetenzen sind entscheidend für eine Exzellenzentwicklung. Ob aus guten Voraussetzungen ein hervorragender Musiker wird, steht allerdings auf einem andern Blatt. Hier entscheidet die Anzahl Übestunden vor dem 18. Lebensjahr. Nachdenkenswert war Koelschs Anmerkung zum Begriff «Begabung». Begabung werde oft fälschlicherweise mit Vererbung von Anlagen gleich gesetzt. Dafür gebe es aber keinerlei wissenschaftliche Beweise. Jedes Kind sei grundsätzlich gleich musikalisch.

Die Erziehungswissenschaftlerin Annette Tettenborn favorisierte in ihrem Referat «Begabungsförderung in der frühen Kindheit» einen ähnlichen Begabungsbegriff, welcher den Prozess des «begabt Werdens» fokussiert. Begabung entsteht erst in der Interaktion zwischen Person und Umwelt und ist nicht «in die Wiege gelegt». Auch in Tettenborns Verständnis sind alle Kinder begabt und haben Entwicklungspotential.

Die «Neue Schule Wolfsburg» hatte vor fünf Jahren die einmalige Chance «auf der grünen Wiese» eine ideale Schule aufzubauen. Gestiftet vom Weltkonzern Volkswagen und reich ausgestattet mit Finanzen und Pädagogen hatte man sich zum Ziel gesetzt, die Schülerinnen und Schüler zu Akteuren ihres eigenen Lernens zu machen. Die Musik, und mit ihr die Begabungsförderung nehmen im Lehrplan einen wichtigen Platz ein. Wichtige Funktionen des Denkens werden nach Ansicht der Schulleiterin Helga Boldt durch das Ausüben von Musik geschult.

Ungleiche Bedingungen
Einen spannenden Perspektivenwechsel erlaubte der Vortrag von Haci-Halil Uslucan, Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte fallen oft durch die Maschen jener Begabungsdiagnostik, die auch bei Einheimischen angewandt wird. Potentiale von Migranten werden auf Grund von Intelligenzkonzepten der Industrienationen beurteilt. Soziale und kulturelle Verkennungsmechanismen tun ein Übriges und führen zu einer Nicht-Integration vieler Zuwanderer. Deshalb wird Migration bei uns oft defizitär wahrgenommen. Uslucan hält Multikulturalität jedoch für eine Chance. Sie bringe «reichere Problemlösungsstrategien und eine höhere Ambiguitätstoleranz».

Gerne schielte man ja beim Argumentesammeln für die Notwendigkeit eines Verfassungsartikels auf die idealen Bedingungen beim Sport. Jörg Schild, Präsident von Swiss Olympic, zeichnete ein Bild von starken Strukturen und klar verteilten Kompetenzen in der Nachwuchsförderung – Swiss Olympic hat den Lead beim Nachwuchs und den Spitzensportlern. Das «Baspo» hat eine Supportfunktion und den Lead im Breitensport inne.
Schulen mit Sportförderklassen müssen klar definierte Kriterien erfüllen, wollen sie mit dem Label «Swiss Olympia Partner Schools» ausgezeichnet werden und dadurch von einer Förderung profitieren. Ein Sportverband wird nur dann unterstützt, wenn er für seine Sportart ein leistungsorientiertes Nachwuchskonzept vorlegt, dass den Ansprüchen von Swiss Olympic genügt.

Das FMB wird in Zukunft im Zweijahresrhythmus durchgeführt.

Das nächste Forum Musikalische Bildung findet am 22./23. Januar 2016 im TRAFO in Baden statt.