Fokus Begabtenförderung am FMB: "Migrationshintergrund" als Chance. 

Interkulturalität macht kreativ

Niklaus Rüegg, 07.10.2013

Haci-Halil Uslucan gehört zur Generation der Kinder der damals als «Gastarbeiter» nach Deutschland eingewanderten Türken. Heute ist er Professor für Moderne Türkeistudien
und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Uslucan wird am 25. Januar 2014 am Forum Musikalische Bildung FMB zum Thema Begabungsförderung und Migration sprechen.

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«Die Schulen schaffen es nicht, alle Kinder gleichermassen zu befähigen.»

Thema Begabtenförderung am FMB: Migration als Chance

Der 1965 geborene Uslucan lebt seit 1973 in Berlin. 1985 nahm er das Studium an der FU Berlin auf und erwarb 1991 das Diplom in Psychologie. 1997 absolvierte er den Magistergrad in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft und promovierte 1999 im Fach Psychologie. 2006 habilitierte er an der Universität Magdeburg. Vertretungsprofessuren führten ihn von 2006-2008 an die Universität Potsdam (Pädagogische Psychologie und Motivationspsychologie), 2008-2010 an die Helmut-Schmidt-Universität Hamburg (Pädagogische Psychologie). 2009 hatte er eine Gastprofessur an der Universität Wien inne. Seit 2010 ist Uslucan wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung sowie Professor für Moderne Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Intellektuelle Entwicklung im Kindesalter, Jugendgewalt und Jugendentwicklung im kulturellen und interkulturellen Kontext, Interkulturelle Familien- und Erziehungsforschung, Islam und Integration, Gesundheit und Migration.
Uslucan wird am 25. Januar 2014 am Forum Musikalische Bildung FMB zum Thema Begabungsförderung und Migration sprechen.
 

Interview: Niklaus Rüegg

Herr Uslucan, in Ihren wissenschaftlichen Untersuchungen zur Migration ist viel von Integrationsproblemen und Gewalt die Rede. Sehen Sie in der Interkulturalität auch Chancen?
Absolut. Ich habe zwar über Jugendgewalt habilitiert, habe mich aber in letzter Zeit vermehrt anderen Themen zugewandt. Integration in andere Kulturen ist tatsächlich eine Chance für beide Seiten. Interkulturalität macht kreativ. Man lernt, dass Dinge nicht so oder so sind, sondern unterschiedlich gehandhabt werden können. Unzählige Studien belegen, dass Menschen, die multikulturelle Erfahrungen haben, kreativer in Problemlösungen sind, da sie sowohl Lösungsmuster aus der eigenen Kultur als auch solche aus der fremden Kultur bedienen können. Multikulturalität und Mehrsprachigkeit bieten enorme Chancen zum Beispiel im Abbau von Vorurteilen, im Einüben von Toleranz.

Gibt es je nach Bevölkerungsgruppen Unterschiedlichkeiten beim Thema Gewalt?
Gerade bei der Gewalt sind die Erkenntnisse übertragbar. Es geht mir darum zu zeigen, dass nicht einzelne Identitäten per se gewalttätiger sind als andere, sondern was für Risikofaktoren gegeben sind. Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit, geringe Bildung der Eltern, beengte Wohnverhältnisse, wenig Einkommen, soziale Risiken wie Ausgrenzungserfahrungen und Arbeitslosigkeit sind Aspekte, die bei Ausländern stärker vorhanden sind. Deshalb erhöht sich hier das Gewaltrisiko. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass bei vergleichbaren sozialen Risiken bei der Gewaltbereitschaft fast keine Unterschiede zwischen Migranten und Deutschen auszumachen sind.

Welche Hindernisse liegen auf dem Weg zu einer erfolgreichen Integration?
Die grössten Hindernisse liegen nach wie vor bei der sogenannten strukturellen Integration, das heisst beim Zugang zum Arbeits- und Bildungsmarkt.
Dieser Zugang bildet die Grundlage für ein eigenständiges soziales Leben. In Deutschland war bis vor kurzem die Arbeitslosigkeit bei den Migranten doppelt so hoch wie bei den Einheimischen.
Die Schulen stellen zwar dieselben Anforderungen an alle, doch schaffen sie es nicht, alle Kinder gleichermassen zu befähigen. Wenn die Eltern über einen geringen Bildungsstand verfügen, scheitert das Kind eher in der Schule.

Hat die Aufrechterhaltung autoritärer und streng religiöser Erziehungsformen aus dem Herkunftsland generell einen negativen Effekt auf den Bildungserfolg von Migranten?
Hier muss man etwas differenziert argumentieren. Auf der einen Seite haben streng autoritäre Erziehungsformen bei den Kindern grundsätzlich eine negative Wirkung. Sie behindern die Kreativität und führen dazu, dass die Kinder sehr dogmatisch denken. Religiosität an sich ist aber nichts Schlechtes, so lange sie nicht ein Denkverbot beinhaltet. Sie kann stärkend wirken und eine Schutzfunktion ausüben.
Den Bildungserfolg allein mit der Religion des Herkunftslandes zu deuten, greift in jedem Fall zu kurz. Die Norditaliener integrieren sich bildungsmässig stärker als Landsleute aus ländlichen oder südlichen Gebieten. Dasselbe gilt auch für die Türkei. Im Vergleich dazu sind etwa die Perser sehr bildungsstark, obwohl sie aus einem islamischen Land stammen.

Kennen Sie Beispiele von gelungener Sozialisation, erfolgreicher Bildung und Förderung bei Schülern mit Migrationshintergrund?
In meinem Umfeld kenne ich einige Menschen mit erfolgreichen Karrieren, Chefärzte, Anwälte, deren Eltern Analphabeten waren. Die Frage ist hier: welche Faktoren haben bei denen gewirkt, die bei anderen weniger gewirkt haben. Zum einen sind es natürlich individuelle Aspekte wie Intelligenz und Neugier. Zum andern sind es auch schulische und soziale Faktoren, wie Förderung durch einen Lehrer, Freundschaften und Bezugspersonen ausserhalb des eigenen familialen, ethnischen Umfeldes. Das sind oft Zufälle, die in der Summe eine erfolgreiche Bildung hervorbringen.

Was kann Jugendliche mit einer Zuwanderungsgeschichte stark machen?
Anerkennung und Förderung der Muttersprache. Kinder sollen nicht das Gefühl haben, dass ihre Sprache abgewertet wird. Auch die Eltern sollten in beiden Sprachen gefördert werden und Freundschaften ausserhalb des eigenen Umfelds schliessen. Schwierigkeiten müssen pro-aktiv angesprochen werden. Man muss lernen gegenseitig Vorbehalte, Ängste und Probleme zuzugeben, die Sensibilität zu stärken. Stark machen auch die Bereitschaft zur Offenheit sowie Lehrkräfte mit interkultureller Sensibilität.

Kann musikalische Bildung, die Beschäftigung mit einem Instrument, eine positive integrative Wirkung entfalten?
Das Musizieren kann eine hohe integrative Wirkung entfalten. Übers Musizieren stellt sich der Kontakt mit dem Gegenüber her und man erkennt den Menschen dahinter.
In meinem Umfeld gibt es einige Familien mit Kindern, die die türkische Langhalslaute exzellent gut spielen, aber deren Talent nicht beachtet wird. Hätten Sie aber die normale Gitarre oder Klavier gespielt, könnte ihre musikalische Begabung deutlich eher gesehen werden.