FMB 2014: Begabtenförderung im Fokus 

Begabungen brauchen ein förderndes Umfeld

Niklaus Rüegg, 08.07.2013

Annette Tettenborn hat Psychologie, Musikwissenschaften und Philosophie studiert. Promoviert hat sie über das Marburger Hochbegabtenprojekt, welches über 20 Jahre lang 150 Familien mit besonders begabten Kindern und Jugendlichen begleitete. Seit 2006 ist sie Professorin und Leiterin des Forschungsinstituts für Pädagogische Professionalität und Schulkultur an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz Luzern. Annette Tettenborn wird am Forum Musikalische Bildung im Januar 2014 zum Thema Begabungsförderung in der frühen Kindheit referieren.

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«Immer wieder den eigenen Fortschritt ins Zentrum stellen».

Interview: Niklaus Rüegg

Frau Tettenborn, Sie haben u.a. Musikwissenschaften studiert. Bitte verraten Sie uns etwas über Ihren Weg mit der Musik und über Ihre persönliche Begabungsgeschichte.

Musik hat mich bis heute immer begleitet. Als kleines Kind habe ich mich sehr gerne zur Musik bewegt. Musik kam damals vor allem vom Plattenspieler oder aus dem Radio. Auf langen Autofahrten haben wir Volkslieder gesungen. Das Repertoire meiner Mutter war schier unerschöpflich. In der Schule lernte ich wie alle meine Mitschüler/-innen Blockflöte spielen. Die Musiklehrerin bemerkte meine Musikalität und regte letztlich an, dass ein Klavier gekauft wurde. Ich begann mit sieben Jahren mit dem Klavierspiel (und dem Ballettunterricht), sang im Schulchor und später in einem halbprofessionellen Frauenchor. Während meines Studiums machte ich den C-Schein als Organistin, mit Stellvertretungen habe ich teilweise mein Studium finanziert. Ich bin meinen Eltern rückblickend sehr dankbar, dass sie meine musikalische Entwicklung unterstützten, was finanziell sicher nicht immer einfach war. Heute mache ich vor allem Kammermusik. Klavierunterricht nehme ich immer noch, wenn auch nicht mehr an einer städtischen Musikschule wie damals.

Wozu braucht es eigentlich Begabtenförderung? Setzen sich wahre Talente nicht von selbst durch?

Meiner Musiklehrerin war etwas aufgefallen: Vermutlich das im Vergleich zu meinen Mitschülern rasche Lernen von Melodien und Rhythmen, die Lust am musikalischen Ausdruck und vielleicht auch eine gewisse Ausdauer, gepaart mit anhaltender Aufmerksamkeit auf das, worauf es beim Musizieren ankommt. Es brauchte dann ein Instrument, Eltern, die auch mal zum Üben anhalten und eine Klavierlehrerin, die fördert und fordert. Unterstützung ist nötig, Talent setzt sich nicht einfach durch. Begabungen zeichnen sich aber auch dadurch aus, dass es begabten Personen gelingt, ein förderndes Umfeld für die eigene Begabungsentwicklung zu nutzen.

Wie und durch wen kann die Entwicklung von Begabten gefördert werden. Gibt es auch ein «Zuviel»?

Ein behutsamer Umgang mit dem Selbstkonzept der eigenen Begabung ist wichtig. Längsschnittstudien haben gezeigt, dass die Entwicklung vom Vorschul- zum Primarschulkind vom Optimisten zum Realisten verläuft. Jüngere Kinder sind mehrheitlich davon überzeugt, dass sie sich nur anstrengen müssen und sie werden richtig gut. Das Konzept der eigenen Begabung entwickelt sich auch durch schulische Leistungsvergleiche dahingehend, dass die Kinder merken, andere können es einfach besser. Das ist teilweise ernüchternd und führt dann zu Aussagen wie: Dafür bin ich halt nicht begabt. Für Begabungsförderung heisst das, trotz anspornender Leistungsvergleiche «gegen oben» immer wieder auch den je eigenen, manchmal als zu klein empfundenen Fortschritt ins Zentrum zu stellen. Überzogenen Erwartungen von Eltern, Lehrpersonen, aber auch der Person selbst bremsen und behindern die Potentialentwicklung.

In welchem Zusammenhang steht die Begabungsentwicklung mit andern Entwicklungsbereichen des jungen Menschen?

Die Entwicklungspsychologie unterscheidet zwischen kognitiver, motivationaler und emotional-sozialer Entwicklung. Alle drei Bereiche sind für die Potentialentwicklung einer Person zentral: Stolz empfinden können über eine gelungene Arbeit, bei Fehlern nicht in blockierende Scham versinken, Entwicklungshürden verstehen lernen, Lösungen finden und Varianten ausprobieren, an Aufgaben dranbleiben. Das Umfeld kann hier stützend wirken, vor allem dann, wenn die Entwicklung in einzelnen Bereichen entwicklungsbedingt noch weniger fortgeschritten ist als in anderen.

Welche Rolle hat bei diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen die Marburger Hochbegabtenstudie gespielt?

Man macht es sich oft zu einfach, aus Forschungsergebnissen 1:1 Handlungsanweisungen für den Alltag ableiten zu wollen. Mein Forschungsbereich innerhalb der Marburger Hochbegabtenstudie betraf die Frage, ob zwischen Familien mit einem hochtestintelligenten Primarschulkind und einem durchschnittlich testintelligenten Kind gleichen Alters Unterschiede festzustellen sind. Je nach Standpunkt können die Ergebnisse beruhigen oder aufhorchen lassen: Ausser dass die Eltern des «hochbegabten» Kindes ihr Kind als intelligenter einschätzten, fanden sich (fast) keine Unterschiede.