Die Philharmonia Zürich feiert 2015 ihr 30-jähriges Jubiläum – und ist erneut im Aufbruch begriffen.  
Philharmonisches Selbstverständnis

Philharmonisches Selbstverständnis

Johannes Knapp, 06.12.2014

Die Philharmonia Zürich feiert 2015 ihr 30-jähriges Jubiläum – und ist erneut im Aufbruch begriffen.

Mit zwei spätromantischen Schwergewichten tritt das Orchester der Zürcher Oper am Abend des 18. Januar 2015 wieder als sinfonischer Klangkörper in Erscheinung. Auf dem Programm des vierten Philharmonischen Konzerts steht Rachmaninows Drittes Klavierkonzert, mit dem Lise de la Salle und Fabio Luisi ihren im Herbst 2013 begonnenen Rachmaninow-Zyklus fortsetzen. Darüber hinaus erklingt die Fünfte Sinfonie von Gustav Mahler, die im Gesamtwerk des Komponisten angesichts ihrer mitunter erschütternden Wucht und ihres Verzichts auf gesungenen Text einen Wendepunkt markiert.

Im Saisonbuch findet sich der bescheidene Hinweis, dass es sich dabei um das Festkonzert zum 30-jährigen Jubiläum der Philharmonia Zürich handelt. Man mag sich vielleicht fragen: Gibt es erst seit 30 Jahren ein Opernorchester in Zürich? Oder verfügte die Zürcher Oper davor über ein anderes Orchester? Die erste Frage ist zu verneinen und auch die Annahme, dass die Oper vor 1985 ein anderes Orchester hatte, ist nicht ganz richtig. Gibt es dann überhaupt einen triftigen Grund zum Feiern?

Ja, denn es ist die «späte Scheidung einer Zweck-Ehe», die mittlerweile dreissig Jahre zurückliegt. Mit diesen Worten fand Ralf Weikert, damals Musikalischer Oberleiter am Opernhaus, eine pointierte Metapher für die jahrzehntelange gemeinsame Geschichte von Tonhalle-Orchester und Opernorchester, die 1985 mit einer Orchestertrennung zu Ende ging.

Bis 1985 nämlich gehörten die vom Opernhaus verpflichteten Musiker einer 167-köpfigen Formation an, die sich Tonhalle- und Theaterorchester (TTO) nannte. Dieses TTO-Konstrukt gliederte sich in eine 80-köpfige «rote» und eine 87-köpfige «blaue» Formation. Erstere gab Sinfoniekonzerte in der Tonhalle, letztere musizierte im Orchestergraben. Beide Formationen wirkten im Kern relativ unabhängig, dennoch waren ihre Übergänge aufgrund personellen Austauschs unscharf. Entstanden war das TTO infolge der 1944 vollzogenen Eingliederung des von der Schweizerischen Rundspruchgesellschaft entlassenen Zürcher Radioorchesters in das Tonhalleorchester. (Damals umfasste das TTO noch 142 Musiker). Bereits drei Jahre später wurde mit dem SMV ein GAV abgeschlossen. Ab 1954 schliesslich regelte ein Gesellschaftsvertrag zwischen der Tonhalle-Gesellschaft und der Theater-AG die Arbeitsverhältnisse, insbesondere die Disposition der Orchesterdienste und die Aufteilung städtischer Gelder.

Dieses Orchestermodell ist gleichwohl historisch bedingt. Schon seit 1834 gibt es in Zürich einen Opernbetrieb, der zunächst noch im Actien-Theater am Hirschengraben stattfand. Ein permanentes Ensemble existierte noch nicht. Musiker wurden produktionsweise angestellt, sowohl für Opernaufführungen als auch für Sinfoniekonzerte. Letztere fanden wenige Meter vom Actien-Theater entfernt statt, in dem Gebäude, in welchem heute das Obergericht beheimatet ist. Dort dirigierte ein berühmter politischer Flüchtling 1850 Beethovens Siebte Sinfonie: Richard Wagner. In den frühen Fünfzigern leitete er in Zürich mehrere Abonnementskonzerte. Des Weiteren dirigierte er Opernproduktionen im Actien-Theater, etwa den Freischütz, Don Giovanni, Die Zauberflöte, Fidelio, Norma und nicht zuletzt auch den Fliegenden Holländer.

Zur Gründung eines ständigen Orchesters kam es 1861. Von der Zürcher Allgemeinen Musikgesellschaft wurde es sowohl für Produktionen im Actien-Theater am Hirschengraben als auch für Sinfoniekonzerte verpflichtet, die ab 1868 im Kornhaus stattfanden. Provisorisch war es zur «Tonhalle» umfunktioniert worden, just an dem Ort, wo heute das Opernhaus steht. Die neu gegründete Tonhalle-Gesellschaft löste die AMG als Orchesterhalterin ab, was zur Folge hatte, dass das Orchester fortan als Tonhalle-Orchester in Erscheinung trat. In der Silvesternacht 1889, während eines weiteren Aufenthalts von Richard Wagner, brannte das Actien-Theater vollständig aus. Nach Plänen der Wiener Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer wurde am Sechseläutenplatz ein neues Stadttheater errichtet. Zur Eröffnung 1891 wurde Wagners Lohengrin aufgeführt. Denselben Architekten wurde gleich auch noch die Planung der neuen Tonhalle anvertraut, die 1895 eingeweiht wurde.

Beide Häuser entwickelten sich alsbald zu Brennpunkten der Schweizer Kulturszene. Volkmar Andreae dirigierte in der Tonhalle Erstaufführungen mehrerer Bruckner-Sinfonien und das Opernhaus rückte unter anderem 1937 in den Fokus, als Bergs Lulu als Fragment uraufgeführt wurde. Ausserdem gingen die Uraufführungen von Hindemiths Mathis der Maler (1938), Honeggers Jeanne d’Arc au bûcher (1942) und Moses und Aron (1957, szenisch) in die Musikgeschichte ein.

Die «blaue» Formation des TTO leistete Beachtliches – unter dem damaligen Musikdirektor Nello Santi insbesondere mit italienischen Opern – und fristete dennoch ein Mauerblümchendasein. Auf den Plakaten jener Zeit etwa sucht man sie meist vergeblich. Teilweise unterpriviligiert gegenüber der «roten» Konzertformation, kam immer wieder der Wunsch nach einem eigenen Opernorchester zum Ausdruck. Und er wurde immer lauter. Man kann sich vorstellen, was los war, wenn man die beiden Formationen am gleichen Abend beispielsweise für den Sacre und den Rosenkavalier benötigte. Auch wuchsen die Ansprüche beider Institutionen, zu deren Erfüllung eine kontinuierliche und eine von von dienstlichen Engpässen unbehinderte Arbeit unerlässlich wurde. Am Opernhaus wusste man spätestens seit dem Monteverdi-Zyklus von Harnoncourt und Ponnelle, dass der Musikeraustausch zwischen beiden Formationen mehr Probleme als Vorteile mit sich bringt. Das Tonhalleorchester wiederum strebte nach internationaler Geltung, wozu man ebenfalls die Arbeitsbedingungen zu verbessern wünschte. Derartige Tendenzen führten 1985 zur einvernehmlichen Vertragsauflösung.

Es waren Zeiten des Aufbruchs und der Veränderung, in denen die Philharmonia Zürich «gegründet» wurde. Orchester mussten nicht mehr als antiquierte Abbilder der bürgerlichen Gesellschaft herhalten, auch wenn Fellinis heiss diskutierte Prova d’orchestra, seine filmische Parabel über Individuum und Kollektiv, Kunst und gewerkschaftliche Bürokratie, Freiheit und Macht – letztere verkörpert von einem Dirigenten mit deutschem Akzent – erst sieben Jahre zurück lag. Verklungen waren die rumorigen, in aller Deutlichkeit zuletzt während des Opernhauskrawalls von 1980 zu vernehmenden Unkenrufe von den Überbleibseln bürgerlicher Musikkultur. In Frankreich und Deutschland war die Formel «Kultur für alle» beziehungsweise «démocratisation culturelle» zur kulturpolitischen Maxime erhoben worden und auch in der Schweiz richtete sich das Augenmerk zunehmend auf die Verbesserung der Aufführungs- und Rezeptionsbedingungen klassischer Musik. Der kürzlich verstorbene Gerd Albrecht hatte bereits in den fünfziger Jahren Kinderkonzerte an der Tonhalle etabliert und der zeitgenössischen Musik einen wichtigen Platz eingeräumt. Auch im Opernhaus tat sich einiges, insbesondere dank des Umbaus des Orchestergrabens wie des gesamten Hauses von 1982 bis 1984 erweiterte sich buchstäblich der Spielraum. (Für Wagners Meistersinger zur feierlichen Wiedereröffnung im Herbst 1984 mussten die Orchesterdisponenten noch Tonhalle-Musiker hinzuziehen.)

Nach der Vertragsauflösung im Juni 1985 entwickelte sich das fortan einzige ausschliessliche Theaterorchester der Schweiz rasch weiter. Neben dem Intendanten Claus Helmut Drese hat sich insbesondere Ralf Weikert bis 1992 um die Entfaltung des Klangkörpers verdient gemacht. So führte er die Philharmonischen Konzerte ein, die längst ein unverzichtbarer Bestandteil des kulturellen Angebots in Zürich sind. Es ist bezeichnend, dass bereits das 10-jährige Jubiläum mit einem Philharmonischen Konzert gefeiert wurde. Im Dezember 1994 – Pereira war seit drei Jahren Intendant – standen Bartóks Konzert für Orchester, Strawinskys selten gespielte Symphonie in drei Sätzen und die Feuervogel-Suite auf dem Programm des Jubiläumskonzerts. Am Pult stand der 41-jährige Riccardo Chailly.

Der damals schon eingeschlagene Weg, das Orchester der Zürcher Oper als sinfonischen Klangkörper stärker zu positionieren, wird seit Beginn der Intendanz von Andreas Homoki und dem Amtsantritt von Fabio Luisi 2012 weiter gefestigt, was sich nicht allein darin bemerkbar macht, dass das Orchester nun Philharmonia Zürich heisst. Nachdem der Gedanke an ein hauseigenes CD-Label schon lange in den Köpfen schwirrte, wurde er endlich Wirklichkeit: Pünktlich zum 18. Januar erscheint ein Livemitschnitt der Symphonie fantastique sowie eine im akustisch hervorragenden Saal des Goetheanum Dornach produzierte Aufnahme mit Ouvertüren und Zwischenspielen aus Wagner-Opern. Ausserdem werden künftig wieder Opernabende auf DVD verewigt, allerdings unter veränderten Vorzeichen, nämlich nicht mehr bei EMI Classics und anderen Labels, wie noch zu Zeiten von Franz Welser-Möst, der in seinen dreizehn Zürcher Jahren weit über fünfzig Premieren dirigiert hat, sondern bei Philharmonia Records. In Kürze wird Rigoletto in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca erscheinen. Im Herbst 2015 kommt dann eine Gesamteinspielung der Rachmaninow-Konzerte mit Artist in Residence Lise de la Salle und Fabio Luisi heraus. Ein Mitschnitt der Paganini-Variationen vom September 2013 wird die Box abrunden.

Verantwortet wird das Label von einem Verein, der sich aus Orchester und Opernhaus AG zusammensetzt. Dabei handelt es sich um eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zweier Interessensgruppen auf Augenhöhe. Es ist die gleiche Organisationsstruktur wie für die Orchesterakademie auch, die bereits 1997 auf eine Initiative aus den Reihen des Orchesters hin gegründet wurde. Jährlich erhalten fünfzehn Studentinnnen und Studenten ein Stipendium, das ihnen wertvolle Orchestererfahrungen und Einzelunterricht bei Orchestermusikern sowie namhaften Gastdozenten ermöglicht.

Dass eine solche Einrichtung existiert, ist dem Einfallsreichtum und dem Verwirklichungsdrang des Philharmonia-Kollektivs geschuldet. In diesem Zusammenhang ist auch La Scintilla zu nennen, das «Originalklangensemble», das sich 1996 ebenfalls aus Musikerinnen und Musikern der Philharmonia Zürich formiert hat und in der kommenden Spielzeit sogar in einer eigenen Konzertreihe zu erleben sein wird. Das Zusammenmusizieren in unterschiedlichsten Gruppierungen wäre ohne den beherzten Einsatz eines jeden Einzelnen undenkbar. Daniele Gatti, von 2009 bis 2012 Chefdirigent des Orchesters, meinte einmal, die Musiker der Philharmonia Zürich benötigten dafür keinen Trainer, sondern jemanden, der gut mit ihnen zusammenarbeite. Generalmusikdirektor Fabio Luisi würde diesem Statement sicherlich zustimmen, ebenso natürlich die Mitglieder des mittlerweile 116 Planstellen umfassenden Orchesters.

Ambitionsreichen Zeiten blickt die Philharmonia Zürich entgegen. Von Kulturpessimismus jedenfalls kann nicht die Rede sein, vielmehr von Aufbruchstimmung. Wie beflügelnd ist doch der Gedanke, dass das Beste möglicherweise erst noch kommen wird!
 

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Fabio Luisi formt den Klang

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