
Unerschöpfliche Gattung
Vier gewichtige Publikationen aus den letzten Jahren blicken mit unterschiedlicher Ausrichtung auf das Streichquartett.
Seit mehr als 250 Jahren ist das Streichquartett nicht allein ästhetisch das nobilitierteste Genre der Kammermusik, sondern auch jene Gattung, die alle Stürme und Revolutionen der Musikgeschichte bis in das 21. Jahrhundert hinein bruchlos und unbeschadet überdauert hat. Dies hat verschiedene Gründe: der kaum zu überblickende internationale Werkbestand bei gleichzeitiger Betonung eines selbst noch im 20. Jahrhundert erweiterten Kernrepertoires; der vielfach vollzogene stilistische Wandel bei deutlich traditionellen und intertextuellen Bezugspunkten; die frühe Etablierung stehender Ensembles und die Professionalisierung des kompositorischen Anspruchs. Dazu kommen die unter verschiedenen Vorzeichen noch immer gültigen satztechnischen Aspekte, die schon Ludwig Finscher für Haydns Opus 33 herausgearbeitet und festgehalten hat. Und so entspricht das Streichquartett auch heute noch einem ganzen Kosmos, in den man eintauchen kann: mit hell leuchtenden Sternen, die einem den Weg weisen, aber auch mit einem für das Auge verschwimmend-glimmenden Band, in dem man sich verlieren kann wie in der Milchstrasse. Unerschöpflich sind die Perspektiven, so dass Studien und Bücher über das Quartett nicht nur Regale füllen, sondern noch immer Neues zu entdecken ist. Wie unterschiedlich dabei die Aspekte liegen können, zeigen vier Buchpublikationen aus den letzten Jahren.
Enzyklopädisch nimmt sich Hermann Walther der Gattung an. Angesichts der im Internet verfügbaren Daten und Listen mutet sein Verzeichnis des Streichquartetts auf den ersten Blick anachronistisch an (wie auch der unglückliche Titel). Und doch bieten seine auf das Notwendigste kondensierten Informationen viel, nämlich über 11.000 Werke, die Komponisten alphabetisch geordnet, mit Verlagsangaben. Eine Fundgrube gleich einem alten Telefonbuch, die man sich zur weiteren Auswertung dann aber doch auch als sortierbaren Datensatz wünscht.
Einen wohl nahezu unbekannten Teil der Gattungsgeschichte thematisiert ein fast 1000 Seiten starker Band über das Streichquartett in Spanien mit 24 Beiträgen in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache mit vier umfassenden Überblicksdarstellungen und weiteren Spezialstudien. Ein Konvolut, das zum Schmökern einlädt und neugierig macht auf die klingenden Werke.
Einen ganz anderen Fokus hat der von Christian Speck bei Brepols herausgegebene, kostspielige, aber auch schön ausgestattete Band, der (um einige Ergänzungen bereichert) Vorträge einer Tagung 2013 in Lucca dokumentiert. Untersucht werden Fallbeispiele der Gattung zwischen privatem Musizieren und öffentlicher Darbietung, auch finden sich vertiefende Studien zu einzelnen Werken.
John W. Barker wiederum widmet dem 1912 in Brüssel gegründeten und nach vielen Umbesetzungen noch immer existenten Pro-Arte-Quartett eine Studie, die nicht nur die teilweise wechselvolle Geschichte des Ensembles, sondern damit selbst ein Stück Musikgeschichte erzählt. In den detaillierten Anhängen kommen Freunde diskografischer Angaben auf ihre Kosten; ich hätte mich indes eher über eine Liste aller jemals aufgeführten Werke gefreut.
Hermann Walther: Verzeichnis des Streichquartetts. Streichquartettkompositionen von 1700 bis heute, 596 S., € 39.99, Schott, Mainz 2017, ISBN 978-3-95983-542-8
The String Quartet in Spain, hg. von Christiane Heine und Juan Miguel González Martínez, 982 S., Fr. 115,95, Peter Lang, Bern 2017, ISBN 978-3-0343-2853-1
The String Quartet. From the Private to the Public Sphere, hg. von Christian Speck, XXX + 388 S., € 110.00, Brepols, Turnhout 2016, ISBN 978-2-503-56800-3
John W. Barker: The Pro Arte Quartet. A Century of Musical Adventure on Two Continents. 368 S., € 29.50, University of Rochester Press, Rochester 2017, ISBN 978-1-58046-906-7