Natürliche, temperierte und pythagoreische Intonation
Was bedeutet es, sauber zu spielen? Was bringt einen Musiker dazu, eher eine bestimmte Tonhöhe zu wählen als eine andere? Wenn man versucht, diese Frage zu ergründen, bemerkt man, dass es keine absolute Wahrheit gibt, und dass man auf alle Einfachheit verzichten muss, da es im Wesentlichen darum geht, weitgehend gegensätzliche Prinzipien miteinander in Einklang zu bringen. Und schliesslich muss man über die Anzahl der Töne (abhängig von der gewählten Tonleiter) und die genaue Höhe der Töne, die man benutzt, eine Wahl treffen, die letztendlich künstlerischer Natur ist.
Einführung
Was die physikalischen Gesetze anbelangt, sind die Töne durch die Frequenz ihres Grundtones definiert. Zum Beispiel schwingt die A-Saite einer Geige normalerweise 442 Mal pro Sekunde und die E-Saite 663 Mal pro Sekunde. Der Grundton wird von den Obertönen begleitet, deren Frequenzen ein Vielfaches des Grundtons darstellen. Die Obertöne sind es auch, die die Klangfarbe erzeugen. Was die musikalischen Intervalle anbetrifft, sind diese definiert durch die Beziehung zur Grundfrequenz. Zum Beispiel hat die Naturquinte A-E eine Beziehungsfrequenz von 663/442 = 3/2.
In der Praxis bauen Musiker die Intervalle durch die drei folgenden Verfahren auf:
1) Die Wahrnehmung der Konsonanz der Töne, die zur Definition der Naturintervalle führt.
Die sogenannten Naturintervalle sind sowohl für das Ohr als auch für die Physik selbstverständlich, weil sie Intervalle der Töne sind, die eine Beziehung der definierten Frequenz durch einen einfachen Bruch darstellen, und wenn man diese Töne gleichzeitig spielt, vermischen sich ihre Obertöne teilweise, was dem Ohr einen Eindruck von Transparenz und Reinheit gibt. Wenn die Beziehung der Frequenzen nicht genau einen einfachen Bruch darstellt, vermischen sich die Obertöne nicht mehr miteinander und es entstehen Schwebungen.
Seit der Antike benutzt man die Prime (1/1), die Oktave (2/1), die Quinte (3/2), die Quarte (4/3), und die Sekunde (9/8). In der Renaissance kam die reine grosse Terz (5/4) dazu, die mit ihr korrespondierende kleine Sexte (8/5), die kleine reine Terz (6/5) und die mit ihr korrespondierende grosse Sexte (5/3).
2) Die Hinzufügung der Naturintervalle führt zum Beispiel zur Zusammensetzung der sogenannten chinesischen Tonleiter oder zur pythagoreischen Tonleiter. Man kann die Intervalle zusammensetzen durch Hinzufügen oder Wegnehmen von Naturintervallen, was mathematisch der Multiplikation oder der Division ihrer Frequenzbeziehungen entspricht. Das Ergebnis ergibt manchmal ein anderes Naturintervall.
3) Die Teilung der Intervalle
Das geübte Gehör kann die Intervalle miteinander vergleichen, also sie in mehrere Teile unterteilen. Zum Beispiel benutzt die traditionelle Musik in Südostasien die Teilung der Oktave in fünf oder sieben gleiche Teile. Die mitteltönige Stimmung (http://perso.wanadoo.fr/organ-au-logis/Pages/Legros.htm), die im 16. Jahrhundert verwendet wurde, teilt die grosse Naturterz durch zwei. Die arabische Musik hingegen teilt die pythagoreische kleine Terz durch zwei.
Der Künstler kann selbst entscheiden, wie er diese Prinzipien gemäss seiner Kultur und seiner Sensibilität anwenden will. Man muss jedoch bemerken, dass die Notwendigkeit gleichzeitig Oktave und Quinte zu benützen, in der Zusammensetzung der Tonleitern bewirkt, dass die Töne der sogenannten chinesischen Tonleiter (C, D, E, G, A, aufgebaut am Anfang des Quintenzirkels) sich fast allen Musikern auf der Erde aufdrängen. Hat sich der Musiker einmal die ersten fünf Töne des Quintenzirkels angeeignet, eröffnen sich ihm mehrere Möglichkeiten:
- er verzichtet darauf, im Quintenzirkel weiterzugehen wegen des Erscheinens des Halbtones H-C, und behält die fünftönige Tonleiter bei, die aus Sekunden und kleinen pythagoreischen Terzen aufgebaut ist
- er teilt die kleinen Terzen in zwei (arabische Musik), um auf diese Weise zur Tonleiter mit sieben Tönen zu gelangen
- oder er geht weiter im Quintenzirkel, wie es Pythagoras gemacht hat, und nimmt alle sich daraus ergebenden Komplikationen hin.
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Künstlerische Betrachtungen
Selbstverständlich ist es so, dass das temperierte System einem bestimmten Musikstil zugehörig ist, und dass es nicht schwer wäre, Beispiele für Stilrichtungen zu finden, denen es nicht entspricht. Jedoch gilt, unabhängig davon für welches System man sich entscheidet, generell folgender Grundsatz, welcher auch den Rhythmus miteinschliesst: Je präziser das Spiel, desto expressiver und wirkungsvoller werden kleine Abweichungen von der Regel.
Präzision eröffnet Freiraum und führt somit zu grosser Kunst.
Ausmass und Häufigkeit dieser harmonisch oder melodisch motivierten Abweichungen sind wiederrum abhängig vom Stil, und der Geiger sollte sich stets bewusst sein, dass sie so wie das Vibrato, welches je nachdem durchgehend oder auch sparsam eingesetzt werden kann, nur eine unter einer Vielzahl von Möglichkeiten darstellen, die einem Künstler zur Verfügung stehen, um seine Musik packend zu gestalten.
Der Autor
Jean Sidler
… ist Geiger im Sinfonie Orchester Biel Solothurn. Eine erste kürzere Version dieses Textes erschien in französischer Originalsprache in: Schweizer Musikzeitung 4/2007, S. 9