
Temperierte Stimmung
Was die Definition der gleichstufigen Stimmung betrifft, so führt sie bei den Streichinstrumentalisten mitunter zu Verwirrung, da ihnen darin nichts sauber scheinen mag. Wie soll man sein Instrument in Quinten stimmen, wenn diese verengt werden müssen, wie soll man Quarten definieren, wenn diese nicht mehr rein sind?
Tatsächlich stützt sich das musikalische Gehör des Melodikers jedoch viel eher auf den Vergleich von Intervallen als auf die Konsonanz der einzelnen Töne. Teilt man nun einen Naturton durch zwei (Quadratwurzel aus 9/8), eine Quarte durch fünf (fünfte Wurzel aus 4/3), eine Quinte durch sieben (siebte Wurzel aus 3/2) und eine Oktave durch 12 (zwölfte Wurzel von 2), erhält man fast identische Resultate! Diese definieren den Halbton mit recht guter Genauigkeit (± 1,2% Abweichung vom Mittelwert). Mit dem Halbton des Pythagoras (1) hat das nicht mehr viel zu tun …
Wenn ein Instrumentalist also in erster Linie die Gleichheit der Intervalle anstrebt, wird er tendenziell die reine Quinte durch sieben teilen, und also eine temperierte Tonleiter spielen, im Sinne dessen, was als «gleichstufige Stimmung mit reinen Quinten» bezeichnet wird, wobei die Oktaven vergrössert werden.
In der Tat stellt die gleichstufige Stimmung einen Mittelweg für alle Intervalle dar zwischen den Anforderungen der Harmonie (welche eher nach engen grossen Terzen und weiten kleinen Terzen verlangt) und jenen der Melodie (welche gerne die grossen und kleinen Intervalle durch Übertreibung hervorheben möchte). Sie drängt sich daher denjenigen Instrumentalisten von selbst auf, welche nach einer stabilen Intonation streben, und das mindestens seit der Romantik, wenn nicht schon weit früher. Wie schon erwähnt, ist es auch wirklich schwierig, die ungleichen Intervallwerte in einer komplexen und virtuosen Musik zu beherrschen.
Das Prinzip der temperierten Stimmung in reinen Quinten, das die Kühnheit besitzt, die Oktave zu vergrössern, ist tatsächlich für einen Streicher sehr befriedigend: Die Doppelgriff-Terzen sind brillant, ohne wie die pythagoreischen Terzen übertrieben zu wirken (während die normaltemperierten Terzen dagegen etwas weich klingen), die Quarten und Oktaven sind nicht «falsch» (2), die Quinten sind rein, und das ganze System ist stabil, einfach und brillant. Dies ist die erste Tonreinheit, die ein Streicher im Zuge seiner musikalischen Ausbildung perfekt zu beherrschen erlernen kann.
Jedes andere Tonsystem führt, wie in einem Labyrinth, in die Irre, denn das Gehör des Spielers kann nur durch eine fixe Intonation korrekt gebildet werden.
Anmerkungen
(1) Der Geiger findet leicht die genaue Position seines ersten und dritten Fingers in der ersten Lage, indem er sich an den Quarten und Oktaven orientiert, die sich im Zusammenklang mit den leeren Saiten ergeben. Von da ist es ein leichtes, durch Teilung der sich daraus ergebenden Ganztöne den Wert des Halbtons zu definieren und memorieren. Hingegen ist die Definition des pythagoreischen Halbtons deutlich delikater und anfälliger für Ungenauigkeiten: auf einfache Art kann der diatonische Halbton nur konstruiert werden, indem man das Cis auf der G-Saite (welches sich aus vier reinen Quarten ergibt) mit der leeren D-Saite vergleicht, oder über die Töne G, H, C auf der D- und A-Saite (welche man unter Zuhilfenahme von reinen Oktaven und Quarten erhält). Für die Definition des chromatischen Halbtons und des Kommas (P) konnte ich keine einfache Methode finden.
(2) Viele Geiger stimmen ihre Instrumente in engen Quinten um die Erweiterung der Oktaven und Quarten zu vermeiden. Damit versuchen sie, die reine Oktave durch zwölf zu teilen, so wie es die herkömmliche gleichschwebende temperierte Stimmung vorsieht. Jedoch ist dieses Stimmungssystem nicht restlos zufriedenstellend (Konzertflügel werden nicht so gestimmt) und auch weniger stabil als jenes mit reinen Quinten, da es auf der Geige schwierig ist, die genaue Verengung der Quinten zu definieren.