
Die Menschen hinter den Musikstilen
Das vierte Norient Musikfilmfestival bescherte dem Publikum eine Entdeckungsreise durch aktuelle Musikphänomene dieser Welt. Dabei standen nicht nur filmische Momente im Mittelpunkt.
«Ein guter Musikfilm erzählt dem Publikum eine Geschichte und eröffnet diesem eine neue Welt», erklärt Michael Spahr, Co-Organisator des Norient-Festivals kurz nach dem Ende der Filmnächte im Berner Reitschul-Kino. «Jedes Jahr bekommen wir Dutzende Einsendungen mit Musikdokumentarfilmen. Darunter viele, die nach demselben TV-Muster aufgebaut sind: Interview mit dem Musiker, Konzertausschnitt und wieder Interview. Eine richtige Geschichte wird selten erzählt. Wenn aber die Geschichte spannend ist, kann sogar die porträtierte Musik langweilig sein», resümiert der Videokünstler und Journalist. Die Qual der Wahl scheint sich gelohnt zu haben: Die vierte Festival-Ausgabe des Berner Onlinenetzwerks für lokale und globale Musik und Medienkultur Norient vom 10. bis zum 13. Januar erhielt nicht nur im Vorfeld eine bestechende Medienresonanz, es überzeugte auch an den Abenden selbst. Und: Es erzählte Geschichten, die unter die Haut gingen.
Unkommentierte Gräueltaten
Im verstörenden Film Until the Light Takes Us (USA/Norwegen 2008) widmen sich die Regisseure Aaron Aites und Audrey Ewell mit dem Black Metal einem Musikgenre norwegischen Ursprungs, das an brutalem und kaltem Ausdruck seinesgleichen sucht. Mit einer lauten und düsteren Ästhetik zeichnet der Black Metal einen Gegenentwurf zur scheinbar perfekten Vorzeigedemokratie Norwegen. Für die Aufnahmen wird anstelle eines Kondensatormikrofons gerne mal ein Headset zur Hand genommen, die Stimmen krächzen und schreien. Alles soll möglichst schlecht klingen, beschreibt ein Musiker in der Filmdokumentation den Stil. Das Nischengenre geriet in den frühen Neunzigerjahren ins mediale Scheinwerferlicht. Grund waren abgebrannte Kirchen, Suizide und Morde aus dem Umfeld der norwegischen Black-Metal-Gruppen.
Varg Vikernes, einer der beiden Protagonisten des Films, sitzt seit über 20 Jahren im Hochsicherheitsgefängnis von Trondheim. Mit einer ungeheuerlichen Seelenruhe erzählt er von Brandstiftungen und dem Mord an seinem Rivalen und breitet sein rechtsextremes Weltbild aus. Die Regisseure lassen die zutiefst befremdenden Aussagen unkommentiert stehen und ernten prompt Kritik. Der am Festival anwesende Aaron Aites entgegnet darauf: «Dass ein Mord nicht zu billigen ist, sollte ich nicht mehr kommentieren müssen, das spricht für sich.»
Musik nach dem Sturm
Eine ganz andere Geschichte ist jene über New Orleans. Als vor sieben Jahren der Wirbelsturm Katrina die Küstenstadt zerstörte, schrieben die Kulturjournalisten über die Angst vor dem Verlust der traditionsreichen Musikszene. In gleich drei Festivalfilmen ist die Zerstörung von 2005 zwar noch omnipräsent, die Musikszenen aber erscheinen – zumindest auf der Leinwand – beinahe so vielfältig wie zuvor. Bury the Hatchet (USA 2010) porträtiert die Tradition der Mardi-Gras-«Indianer». Diese afroamerikanischen Stämme führen seit dem 19. Jahrhundert Paraden durch, an welchen ihre Oberhäupter, mit bombastischem Federschmuck und Gewändern behängt, singend und tanzend durch die Strassen ziehen. Musikalisch steht der Brauch in der Tradition des Frage-Antwort-Spiels des Blues, dem «Call and Response».
Auch der Rapper Freddie Ross aka Big Freedia beruft sich auf dieses uralte Prinzip der Black Music. Obwohl das noch unfertige Porträt Almost Famous (USA 2013) über ihn nicht gezeigt werden konnte, ermöglichte ein Gespräch mit Regisseurin Renee Moncada-McElroy und Big Freddia Einblicke in das Hip-Hop-Genre «Bounce Music» aus New Orleans, das nach Katrina von einer neuen Welle der Popularität erfasst wurde. Bestandteil der «Bounce Music» ist insbesondere ein Tanz, der eine hohe Beweglichkeit des Gesässes erfordert. Dieser sorgte sowohl in den USA als auch am Filmfestival für Diskussionsstoff: Ist das purer Sexismus oder nur eine körperbetonte Tanzweise?
Schliesslich zeigte der Film (Schweiz/USA 2012) eine weitere Seite der sturmgeschädigten Küstenstadt: Der Schweizer Musiker Simon Berz realisierte in der experimentellen Jazz-Szene das Projekt 10x10=>11 und erkundet in Improvisations-Sessions die Klänge von aus Abfall gefertigten Instrumenten.
Viele Fragen bleiben offen
Alle Filme drehten sich um einzelne Personen, um ihr Scheitern und ihre Erfolge, um ihre Verbindung zu Tradition und Innovation. Musik spielte oftmals keine Hauptrolle, war mehr Mittel zum Zweck: Black Metal als Ausflucht aus einer öden Gesellschaft, «Call and Response» als Soundtrack der Tradition.
Das Festival selbst war auch ein Experiment, wie die beiden Organisatoren Michael Spahr und Thomas Burkhalter betonten. Noch nie waren die Formate und Gefässe unterschiedlicher: Filme und Diskussionen wurden ergänzt mit einem kulinarischen Ausflug in die kreolische Küche, Live-Konzerten, einem Tanzkurs, einem Videovortrag und einer Clubnacht. Hier nur von einem Musikfilmfestival zu sprechen, wird der Sache kaum gerecht. Vielmehr erlebte Bern ein spartenübergreifendes Fest, das alle Sinne für globale Musikphänomene unserer Zeit zu schärfen vermochte. Wobei sich die Türe zur fremden Welt oft nur einen Spalt breit aufgetan und die Zuschauer fragend zurückgelassen hat. Wie kommt es dazu, dass norwegische Jugendliche Kirchen anzünden? Welche Rolle spielt die Musik bei den Mardi-Gras-Umzügen? Was muss man sich unter bulgarischem Chalga-Pop vorstellen?
Die Filme präsentierten die Menschen hinter den Musikstilen, die Stile selbst lernte man nur wenig kennen. Und auch die Clubnacht mit Rapper Big Freedia war nicht viel mehr als ein kurzer Einblick: Für eine elektrifizierende Party reicht es nicht, einen Künstler aus Übersee einzufliegen. Es fehlte eine lebendige, mit den Codes des Genres vertraute lokale Fangemeinschaft.
Dennoch war die vierte Ausgabe des Norient-Festivals mit rund 1200 Besucherinnen und Besuchern ein grosser Erfolg. Die Jubiläumsausgabe 2014 findet vom 9. bis 12. Januar statt.