
Die Macht des Bösen
Das spanisch-katalanische Künstlerkollektiv La Fura dels Baus kombiniert Debussys «La Damoiselle élue» mit Honeggers dramatischem Oratorium. Ein Abend, der eine Reise lohnt.
Während Arthur Honegger soeben aus dem Portmonnaie verschwindet (glücklich die Schweizer, die ihre Künstler so lange auf den Geldscheinen haben mit sich tragen dürfen!), steht er nördlich des Rheins noch und wieder auf dem Spielplan – aktuell auf dem der Oper Frankfurt mit einer fulminanten Inszenierung seines dramatischen Oratoriums Jeanne d’Arc au bûcher (1935). Nach 1949 und 1968 gelangt damit das gänzlich solitäre Werk bereits zum dritten Mal auf die Bühne der Main-Metropole. Eine besondere Aufführungstradition ist damit freilich weder verbunden noch ausgerufen – und dennoch kann das Werk in der Inszenierung von Àlex Ollé und seinem international so erfolgreichen spanisch-katalanischen Kollektiv La Fura dels Baus auch als ein Reflex auf die Wirklichkeit (wenigstens von Teilen dieser Welt) gesehen und gehört werden: machtpolitische Ränkespiele, Schauprozesse und der Verfall der einst auf Solidarität gegründeten Zivilgesellschaft.
Grandios zwischen den Gattungen
Über die beiden letzten Jahrhunderte immer wieder und auch heute noch ideologisch missbraucht, stellt die mythenumrankte Jeanne d’Arc eine zentrale Identifikationsfigur für das französische Selbstbewusstsein dar: Mit ihren Visionen erlangte sie als Bauernmädchen das Vertrauen des Thronfolgers; unter ihrer glühenden Führung wurden während des Hundertjährigen Kriegs die Engländer vor Orléans vertrieben; durch Verrat geriet sie in Gefangenschaft und endete nach einem abgekarteten Hexenprozess im Alter von nur 19 Jahren auf dem Scheiterhaufen. Zeitgenössische Darstellungen gibt es keine, später wurde die Legende aber vielfach bildnerisch wie auch literarisch (Schiller, Brecht) rezipiert. Im Bereich der tönenden Kunst bewegt sich nur Honeggers Partitur auf einem vergleichbaren künstlerischen Niveau bewegt (Werke von Rossini, Verdi und Tschaikowsky erscheinen demgegenüber eher marginal). Denn statt einer abendfüllenden durchkomponierten Oper schuf Honegger in engster Verbindung mit seinem Librettisten, dem Dichter Paul Claudel, eine Komposition, die sich in keine bewährte Gattung so richtig einfügen will; die Bezeichnung als dramatisches oder szenisches Oratorium bezieht sich vor allem auf die gewichtigen Aufgaben des Chores und die Sprechrolle der Jeanne d’Arc, während szenisch vieles eher an Mittel der Grand Opera erinnert: bühnenfüllende Massenszenen und das Spiel mit verschiedenen Gruppen. In dieser Unabhängigkeit liegt auch die anhaltende Stärke des Werkes, in dem sich Honeggers originär kantiger Tonfall mit neoklassizistischem Kontrapunkt, frech gestrafften Jazzrhythmen und alten Volksweisen verbindet.
Nicht Oper, nicht Oratorium und weit mehr als nur eine gross angelegte Bühnenmusik; Àlex Ollé nahm den von Claudel (einem gläubigen Katholiken) und dem mit pessimistischer Weltsicht belegten Honegger ausgeworfenen Faden auf und spann ihn auf seine Art weiter: zentral der als Himmelsleiter dienende Elevator, auf dem Jeanne zu Beginn rückschauend in das Reich der Niedertracht einschwebt, ringsum und in immer wieder neuen Konstellationen das aufgewiegelte, halbnackte, sich tierisch gebärdende Volk und die derb geschnittenen Bestien der Inquisition. Ebenso eindrucksvoll, opulent wie apokalyptisch in der dunklen, schmutzig-drohenden Bildersprache erscheint die Szene des Kartenspiels, die zu einer ebenso faszinierenden wie erschreckend visionären Darstellung der Macht des Bösen gerinnt.
Zyklisch zusammengestellt mit Debussy
Der Kontrast zu dem gleichsam als himmlisches Vorspiel gesetzten präimpressionistischen Poème lyrique La Damoiselle élue (1893) von Claude Debussy könnte kaum grösser sein. Schaut zunächst die Auserwählte über die goldene Barriere des Himmels in Erwartung ihres (noch) irdischen Geliebten, ist es am Ende des Abends Jeanne d’Arc, die durch die Kraft des Glaubens und der Liebe ihr flammendes Ende erträgt und, getragen von den Stimmen der Heiligen, überwindet. Auch wenn Debussy feinsinnig instrumentiert hat und die kaum aufgeführte Kantate in ihrer wohl ersten Bühnenrealisation angesichts der Kraft des folgenden dramatischen Oratoriums in den Hintergrund gerät, ist damit auch musikalisch ein Zyklus konstruiert – schliesst Honegger doch die letzte Szene nicht mit einem akustischen Feuerzauber, sondern in fast zärtlich aufsteigenden Akkorden.
Für diese hochgradig expressionistischen Bilder und die eindringliche Dichte erntete das als geschlossenes Team inszenierende Kollektiv La Fura dels Baus den ungeteilten Beifall des Premierenpublikums – sicherlich aber auch, weil es in den fast zwei Stunden ohne unmotivierte Leerstelle oder dreisten Schocker auskam. Zudem liess das Konzept dem vorzüglich von der Regie auf der Bühne geführten und musikalisch von Tilman Michael einstudierten Chor (mit Extrachor) genügend Raum zur Entfaltung; auch der von Markus Ehmann betreute Kinderchor leistete Erstaunliches. Obwohl die aus Theater und Film bekannte Johanna Wokalek in der so stark wie authentisch gespielten Rolle der Jeanne d’Arc im Zentrum der Aufführung stand, teilte sie auf sympathische und kollegiale Weise den Applaus mit allen anderen Protagonisten, darunter Sébastien Dutrieux (Bruder Dominique) und Elizabeth Reiter mit ihrem warm timbrierten Sopran (als Damoiselle élue). Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester zeigte sich unter der Leitung von Marc Soustrot bestens präpariert und in Höchstform. Ein Abend, der eine kleine Reise lohnt.
Weitere Aufführungen am 17., 23., 24., 28. und 30. Juni sowie am 1. Juli 2017
www.oper-frankfurt.de/de/spielplan/la-damoiselle-elue-/-jeanne-darc-au-bucher