
Fragen und Fragmente
Die Hauptprogrammpunkte des Festivals Rümlingen spielen diesmal in geschlossenen Räumen. Bewegung wird zum Auslöser für Musik oder mischt sich mit Virtuellem.
«Ich gehe einen Schritt nach rechts und einen Schritt diagonal nach vorn. Ich stehe nun sechs Schritte in der Vertikalen von meiner Ausgangsposition entfernt. Ich atme – und spiele einen Triller.» In Brigitta Muntendorfs Screen Sharing. Come into my inhabitable world kommt Rümlingen 2017 komprimiert zur Sprache. Der sich zu den Worten bewegende Saxofonist unterstreicht zum einen das Motto «17 läuft. Musik in Bewegung». Zum anderen verweisen seine isolierten Solo-Triller auf eine Programmausdünnung. Einen ungleich kleineren Etat gab es offenbar als in den letzten Jahren. Das Resultat: nur zwei grössere Produktionen in Form von Muntendorfs Screen Sharing und Penelope Wehrlis Eadweards Floss, eine Art Performance, die firmiert unter der Bezeichnung «Interface für Tänzer, Komponisten und Musiker».
Musik aus der Bewegung
Man muss wissen: Der Namensgeber des Stücks, Eadweard Muybridge, machte im späten 19. Jahrhundert Furore mit chronofotografischen Bewegungsuntersuchungen. In der Art eines Daumenkinos reihte er Fotografien so aneinander, dass zum Beispiel die Analyse eines Pferdegalopps möglich wurde. Penelope Wehrli, die in Zürich geborene Bühnenbildnerin und Performancekünstlerin, aktualisiert nun in Rümlingen Muybridges Ideen: Sie stattet Tänzer mit Bewegungssensoren aus. Ihr reduziertes Achselzucken, ihre schlangenartigen Wellenbewegungen kommen so in einen Computer, der augenblicklich für zwei Akkordeon-Spieler eine grafische und traditionelle Notation errechnet.
Das Konzept ist einleuchtend. Hier reagieren nicht die Tänzer auf Musik, sondern die Musik auf die Tänzer, die wiederum – in einer Art Perpetuum mobile – motorisch antworten auf die Akkordeon-Töne. Was in den ersten Minuten fasziniert, offenbart leider bald seine Schwächen. Zeitverzögerungen sind nicht das Hauptproblem. Aber allzu eintönig wirken auf Dauer sowohl die fragmentarischen Einwürfe der Musiker wie auch die Tanzbewegungen. Eine Differenzierung der Computer-Algorithmen könnte das Problem vielleicht lösen. Denkbar wäre eventuell auch eine mehrschichtigere Anlage dieser Tanzperformance. In Rümlingen bleibt es bei einer etwas faden Vorstellung, die aber zum Weiterdenken motivieren könnte, vielleicht sollte.
Zitieren statt kritisieren
Kurzweiliger ist Brigitta Muntendorfs in dieser Form uraufgeführtes audiovisuelles Stück Screen Sharing. Come into my inhabitable world. Im Dachgeschoss der Rümlinger Kirche inszeniert sie, wie sie schreibt, eine «Schnittstelle zwischen dem realen Unbewohnbaren und einer künstlichen, virtuellen Lebenswelt». Für die Komponistin durchdringen sich Alltag und Virtualität – sie werden zum Beispiel da ununterscheidbar, wo Menschen ihre realen sexuellen Bedürfnisse auf Plattformen wie Youporn stillen. Von Sex ist in Screen Sharing wenig die Rede. Eine grosse Rolle aber spielen Youtube-Schnipsel, die sich überlagern mit den Musiker-Aktionen vor Ort.
Sensibel, zugleich hoch professionell gestaltet Muntendorf den Dachboden mit Instrumenten-Stationen, grossen Videoleinwänden und schönen Lichteffekten. Stimmig wirkt das alles, entwickelt einen Sog mit all seinen Beigaben. Poprhythmen sind zu hören, sterile Synthesizer-Klänge, dann Bläser im Solo oder auch eine Stimme, die fragmentarisch englische oder deutsche Sätze spricht. Ähnlichkeiten mit Manos Tsangaris’ Stationentheater sind nicht zu übersehen. Auch bei Muntendorf sitzen einzelne Akteure an ihren Tischen, wobei mal der eine, mal die andere in den Vordergrund rückt.
Ein so reiches Geschehen ist wohl unter anderem eine Antwort auf eine komplexe heutige Lebenswelt. Inmitten dieser «collagenartigen und rhizomatischen» (Muntendorf) Abbildungsästhetik kommen jedoch auch Fragen auf: Youtube könnte man auch unter ideologiekritischen Gesichtspunkten sehen. Das blosse Zitieren ist zu einfach. In dem Moment, wo die digitale Zerstreuung zu einem akuten gesellschaftlichen Problem wird, sollten Künstler (und Konzeptliebhaber!) vielleicht doch mal den Finger heben. Oder zumindest nach Möglichkeiten suchen, wieder etwas Verbindlichkeit zu stiften. So bleibt primär das Fragmentarische an Rümlingen haften. – Leider hat dies meist keine lange Halbwertszeit.