
Kolossale Ratterharmonie
Erstmals ist das Zusammenspiel von Tinguelys vier «Méta-Harmonien» und des fahrbaren «Klamauk» zu erleben – eine aussergewöhnliche Klangerfahrung. Ein reichhaltiges Beiprogramm rundet die Ausstellung bis am 21. Januar 2017 ab.
Wir sehen Räderwerke, die in rostigen Rahmen hängen. Die grossen Räder greifen ineinander und assoziieren verrückte überdimensionierte Uhrwerke, Fantasiemaschinen, rätselhafte mechanische Apparate. Zerbrochene Musikinstrumente und Klangkörper sind den Maschinenkonstruktionen eingearbeitet. Symbole aus dem Fundus der Kunstgeschichte neben Industrie- und Alltagsgegenständen in überraschenden Funktionen, Glasschüsseln, Ölfässer, Jauchelöffel und Schlackehammer komplettieren die Kolossalskulpturen. Trotz des Rostes und der zahlreichen Spuren von Vergänglichkeit überwiegen bunte, fröhliche Farben. Im Ruhezustand und auf den ersten Blick ähneln sich die vier Musikmaschinen, doch ihr Klangbild ist völlig unterschiedlich. Ein Knopfdruck erweckt sie zum Leben, und dann entfalten sie für ein paar Minuten ihre ganze Individualität.
Méta-Harmonie I ist die melodischste, Geige und Tasteninstrumente sind zentrale Elemente. Verborgen im Getriebe dreht sich ein Gartenzwerg mit Akkordeon wie besessen um seine eigene Achse. Kinderspielzeug ist sehr präsent, eine Pinocchio-Figur aus Holz gleitet über die Tasten eines zerstörten Klaviers. Der Versuch, die Abfolge der Klänge den mechanischen Bewegungen und den dabei entstehenden Bildern zuzuordnen, braucht einige Geduld. Doch, da klingen Tasteninstrumente, eine Tonleiter bildet die Melodie für dumpfe Schläge und Rasseln. Zuhören, erkennen und versuchen, die Mechanismen zu verstehen, oder sich staunend dem Assoziationsfluss überlassen, beide Zugänge haben ihren Reiz.
Das opulenteste Stück der Schau ist die Méta-Harmonie 3 aus dem Jahr 1984, auch Pandämonium No. 1 genannt. Tierschädel, die mit den Kiefern klappern. Ein alter Plastikhase und eine Adlerplastik drehen sich um ihre eigene Achse, zweiundfünfzig Motoren bewegen Räder, deren imaginäre Achsen kreuz und quer durch den Raum verlaufen. Immer neue Details werden sichtbar, wenn die Aufmerksamkeit von den Klängen gelenkt wird. Die ganze Maschine ist geschmückt mit bunten Federbüscheln. Schaubuden-Lichteffekte lassen die Maschine blinken und strahlen, und man spürt, dass Tinguelys Auseinandersetzung mit dem Tod nicht tragisch oder beängstigend, sondern ein barockes Sinnenfest ist, das seinen Bezug zum Basler Totentanz nicht verleugnet.
Tinguelys Synthese der Künste
Méta-Harmonie ist ein herausforderndes Wort. Annja Müller-Alsbach, Kuratorin der Ausstellung, erklärt es so: Die Töne, die Jean Tinguely mit seinen Maschinen erzeugt, das Schrillen und Krächzen, Rattern und Poltern, sind das Gegenteil von Harmonie. Seine Skulpturen sind keine Musikmaschinen im eigentlichen Sinn, sondern Klangmischmaschinen. Von Anfang an verwendete Jean Tinguely Töne als künstlerisches Material. Häufig greift er vorgefundene Alltags- und Industrieklänge auf, die er wie seine plastischen Objekte als Fundstücke behandelt. Der akustische Reiz, der von den Skulpturen ausgeht, soll den visuellen Reiz komplettieren. Hören und Sehen sind für das Verständnis seiner Arbeiten gleichbedeutend.
Er sah seine Méta-Harmonien als eigenständige Erscheinungen, wenn auch Bezüge zur minimalistischen Neuen Musik oder zur Fluxus-Bewegung, zu John Cage und Robert Rauschenberg erkennbar sind. Jean Tinguely ging es jedoch nicht um einen Beitrag zur Musik seiner Zeit, sondern um eine Synthese der Künste.
Der Solo-Auftritt jeder einzelnen Méta-Harmonie ist ein Erlebnis, das Staunen und Heiterkeit auslöst. Aber man sollte sich auf keinen Fall die Gelegenheit entgehen lassen, die vier Méta-Harmonien und die fahrbare Skulptur Klamauk, die die Serie ergänzt, in Interaktion zu erleben. Dann geschieht etwas Unerwartetes: Es stellt sich tatsächlich Harmonie ein. Die Töne und Geräusche der fünf Skulpturen greifen ineinander, ergänzen sich oder heben einander auf, und es entstehen Klangbilder, die Melodien und Rhythmen ausbilden. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Arbeiten im Verlauf von acht Jahren entstanden sind und gleich an ihre Auftraggeber ausgeliefert wurden, so dass Jean Tinguely selbst nie die Gelegenheit hatte, sie im Dialog zu erleben. Das Zusammenspiel der Musikmaschinen ist in der Ausstellung mehrmals am Tag jeweils zur halben Stunde mitzuverfolgen.
Museumsdirektor Roland Wetzel betonte in seiner Eröffnungsrede die Einmaligkeit des Ereignisses: Unwahrscheinlich, dass die Grossplastiken in absehbarer Zeit wieder zusammenkommen werden. Zwei befinden sich in der Sammlung in Basel, eine in Wien, und Méta-Harmonie 3 aus Karuizawa, Japan, war acht Wochen als Seefracht unterwegs, ehe sie ihren Platz im Ausstellungsraum einnehmen konnte.
Weitere Künstler im Begleitprogramm
Neugierig macht das Begleitprogramm, das jeden Monat bis zum Ende der Schau neue Aspekte von Maschinenmusik und Klangexperimente zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler vorstellt. Gleich zu Beginn ist ein Werk des Berners Zimoun, ein vibrierender Klangteppich, zu hören und zu sehen, Thom Luz präsentiert Mitte Dezember ein automatisches Bühnenbild, wo Zufall und Gasballons die Musik bestimmen, in der Vorweihnachtszeit sind vier Orchestrien aus dem Museum für Musikautomaten in Seewen zu bewundern, die dem Thema Maschinenmusik nostalgische Momente hinzufügen.
Das Konzertprogramm bietet neben Jazz auch Studierenden der Schlagzeug- und Improvisationsklassen der Basler Hochschule für Musik ein Podium, das Ensemble Phoenix Basel wird im Januar die Ausstellung bespielen. Ein absoluter Höhepunkt im Januar ist die Präsentation Things You Do Seldom von Bianca Hildenbrand, Eliza Coolidge und Timothy Severo aus New York, eine Installation von 100 aus Alltagsgegenständen gebauten Musikmaschinen und 100 Knöpfen, die gedrückt werden dürfen, womit jeder selbst Klänge mischen und interaktiv mit der Ausstellung kommunizieren kann.
Zwei Familiensonntage am 23. Oktober und 4. Dezember bieten Erlebnisse für alle Altersstufen, darunter einen Beatboxing/Human Vocal Percussion Workshop. An diesen Tagen ist die Ausfahrt der Tinguely-Plastik Klamauk in den Solitude-Park geplant, wenn das Wetter es zulässt. Auf jeden Fall sollte man häufig einen Blick ins Veranstaltungsprogramm des Museums werfen, um sich über die zahlreichen Angebote zu informieren.
Mitte November wird, wie Co-Kuratorin Sandra Reimann informierte, der Katalog zur Ausstellung erscheinen, mit kunsthistorischen Aufsätzen über die Klangdimension im Werk Jean Tinguelys, neu erschlossenen Archivmaterialien und Auskünften seines Assistenten Seppi Imhoff über die Entstehungsgeschichte der Méta-Harmonien.
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- © 2016, ProLitteris, Zürich; Foto: 2016 Museum Tinguely, Basel; Daniel Spehr
- Jean Tinguely, Méta-Harmonie I (Detail), 1978
- Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Leihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung seit 1983